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Modul 5, Baustein 2: 2.10 Textmaterial 3 - 5 (Vorlage LS)

M 3a: Eiskugeln

  Rico und Oskar sind inzwischen dicke Freunde geworden. Rico ist hoch aufgeschossen, „tiefbegabt“ und deshalb ein bisschen langsam im Denken. Oskar ist klein, überängstlich, aber ein wandelndes Lexikon. Zusammen sind die beiden unschlagbar. Oskar wird von seinem Vater etwas vernachlässigt. Deshalb freut er sich, dass er ein Wochenende bei Rico und seiner Mutter in der Dieffenbachstraße in Berlin verbringen darf. Rico zeigt seinem Freund das Stadtviertel und lädt ihn zu einem Eis ein.

  … Der Eiswagen stand am Außenrand des Parks. Als Oskar und ich darauf zugingen, guckte uns die Verkäuferin aus (B 1) Augen entgegen. Man hätte annehmen können, sie bräuchte eine Brille, aber ich sah sofort, dass sie bloß miese Laune hatte. Vielleicht war sie (B 1) , weil draußen die Sonne schien und sie in ihrem Eiswagen frieren musste. Sie war etwa genauso alt wie Mama, aber nur halb so (B 1) und höchstens viertel so (B 1) .

„Guten Tag“, sagte ich. „Zwei Eis bitte.“

„Waffel oder Becher?“ Ihre Stimme klang so (B 1) , wie ich mich fühle, wenn ich mit Frau Dahling den Musikantenstadl gucken muss.

„Waffel.“

„Wie viele Kugeln?“

„Viele.“

Sie verdrehte die Augen, nahm eine von den ganz großen Waffeln, fischte das Eiskugelrauskratzding aus einem kleinen Behälter mit Wasser und ließ es auffordernd klappern.

„Ich hätte gern eine Kugel Schoko“, sagte ich. „Und dann noch eine Schoko.“ Sie klatschte wortlos zwei Kugeln in die Waffel und sah mich abwartend an.

„Bitte noch eine.“ KLATSCH!

„Und noch eine.“

Jetzt war nicht nur ihr Blick (B 1) , sondern auch ihr Mund. „Sag doch gleich, dass du viermal Schoko willst!“

„Ich will fünfmal Schoko.“

„Vielleicht ziehst du erst mal die fünf Schrauben in deinem Kopf an, Kleiner!“

(B 3)

Die fünfte Schokokugel klatschte in die Waffel. „War`s das?“

„Danke.“

„Danke ja oder danke nein?“

Ich streckte einfach die Hand aus und nahm die Waffel an (B 3) . Jetzt stellte sie sich auf die Zehenspitzen, beugte sich über den Tresen und guckte zu Oskar runter. „Und, können wir schon bis fünf zählen?“

„Wir können sogar bis sieben“, sagte Oskar (B 1) . „Bitte im Becher. Erdbeere, Pistazie, Tiramisu, Vanille, Karamell, Zitrone, Erdbeere.“

Die Eisfrau schloss den Mund und machte ein (B 1) Geräusch mit den Zähnen, bevor sie ihn wieder öffnete. „Also zweimal Erdbeere?“

„Ja, aber eine ganz unten und eine ganz oben. Und wenn`s geht, die Zitrone nicht an die Pistazie kommen lassen. Und Vanille nur, wenn da auch … sind da künstliche Aromastoffe drin?“

„Jede Menge.“ Sie lächelte Oskar so (B 1) an, als wollte sie sagen: Genug, um kleine Kinder, die mir auf die Nerven gehen, so richtig schön zu vergiften.

„Gut.“ Ich konnte es nicht sehen, aber ich wette, Oskar zuckte hinter der großen schwarzen Sonnenbrille nicht mit der Wimper. „Dann bitte lieber zwei Kugeln

Vanille und dafür keine Zitrone. Die echte Gewürzvanille ist eine Orchidee, wissen Sie.“

„Interessiert mich nicht.“

Oskar starrte sie an. Seine kleinen Finger mit den abgekauten Nägeln begannen einen Trommelwirbel auf dem Tresen zu schlagen, ta-ramm, ta-ramm. „Die Vanillepflanze“, erklärte er (B 1) weiter, „muss von Arbeiterinnen auf Madagaskar und Réunion mit Kaktus- oder Bambusstacheln künstlich bestäubt werden, um in ausreichenden Mengen auf dem Weltmarkt verkauft werden zu können.“

„Tatsächlich.“

Das Eiskugelrauskratzding klapperte. Die erste Kugel Erdbeereis landete im Becher.

„Das ist keine (B 1) Arbeit“, ta-ramm, ta-ramm, „und sie wird schlecht bezahlt.“

„So, so.“

ZACK, Pistazie, ZACK, Tiramisu …

„Und künstliche Vanille ist völlig unschädlich.“

„Was du nicht sagst. Wo war noch mal das Karamell?“

Oskars Finger kamen zur Ruhe. „An fünfter Stelle. Aber zählen konnten wir ja eigentlich bis sieben.“ Die Eisfrau schnaubte bloß. Oskar wandte sich zu mir um. „In deinem Eis ist sie auch drin.“

Ich starrte meine Waffel an, als hätte sich ein Tierchen darin versteckt. „Wer?“

„Die künstliche Vanille.“

Ich nickte und tippte mit der Zungenspitze vorsichtig gegen die Schokokugeln. Sie schmeckten okay. Hinter mir klapperte das Eiskugelrauskratzding immer schneller. Ich hatte noch nie überlegt, ob irgendwo irgendwer dafür schlecht bezahlt wurde, dass er mit Kaktusstacheln was natürlich Unschädliches zu essen herstellte, das künstlich genauso unschädlich war.

Die Eisfrau reichte Oskar seinen Becher über den Tresen nach unten und ich hielt ihr den Zehneuroschein hin. Als sie mir das Wechselgeld herausgab, tat ich so, als würde ich es schnell nachzählen, bevor ich es in die Hosentasche klimpern ließ.

„Tschüs“, sagte ich. „Bis bald mal wieder.“

Die Eisfrau hob das Eiskugelrauskratzding wie eine Waffe und murmelte etwas wie: Nur über meine Leiche. …

Aus: Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Illustrationen von Peter Schössow. © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2009. S. 36−40.


 

M 3b: Eiskugeln

  … Der Eiswagen stand am Außenrand des Parks. Als Oskar und ich darauf zugingen, guckte uns die Verkäuferin aus schlitzigen Augen entgegen. Man hätte annehmen können, sie bräuchte eine Brille, aber ich sah sofort, dass sie bloß miese Laune hatte. Vielleicht war sie stinkig, weil draußen die Sonne schien und sie in ihrem Eiswagen frieren musste. Sie war etwa genauso alt wie Mama, aber nur halb so blond und höchstens viertel so hübsch.

„Guten Tag“, sagte ich. „Zwei Eis bitte.“

„Waffel oder Becher?“ Ihre Stimme klang so genervt, wie ich mich fühle, wenn ich mit Frau Dahling den Musikantenstadl gucken muss.

„Waffel.“

„Wie viele Kugeln?“

„Viele.“

Sie verdrehte die Augen , nahm eine von den ganz großen Waffeln, fischte das Eiskugelrauskratzding aus einem kleinen Behälter mit Wasser und ließ es auffordernd klappern.

„Ich hätte gern eine Kugel Schoko“, sagte ich. „Und dann noch eine Schoko.“ Sie klatschte wortlos zwei Kugeln in die Waffel und s ah mich abwartend an.

„Bitte noch eine.“ KLATSCH!

„Und noch eine.“

Jetzt war nicht nur ihr Blick verkniffen, sondern auch ihr Mund . „Sag doch gleich, dass du viermal Schoko willst!“

„Ich will fünfmal Schoko.“

„Vielleicht ziehst du erst mal die fünf Schrauben in deinem Kopf an, Kleiner!“ Also echt! Ich presste die Lippen aufeinander. So was versaut mir voll den Appetit. Wenn man so schnellbis fünf zählen könnte, wie manhintereinander Lust auf Schoko hat, ohne es vorher zu wissen, würde man das ja wohl tun.

Die fünfte Schokokugel klatschte in die Waffel. „War`s das?“

„Danke.“

„Danke ja oder danke nein?“

Ich streckte einfach die Hand aus und nahm die Waffel an . So eine unfreundliche Zicke. Jetzt stellte sie sich auf die Zehenspitzen, beugte sich über den Tresen und guckte zu Oskar runter. „Und, können wir schon bis fünf zählen?“

„Wir können sogar bis sieben“, sagte Oskar liebenswürdig. „Bitte im Becher. Erdbeere, Pistazie, Tiramisu, Vanille, Karamell, Zitrone, Erdbeere.“

Die Eisfrau schloss den Mund und machte ein kleines knirschendes Geräusch mit den Zähnen , bevor sie ihn wieder öffnete. „Also zweimal Erdbeere?“

„Ja, aber eine ganz unten und eine ganz oben. Und wenn`s geht, die Zitrone nicht an die Pistazie kommen lassen. Und Vanille nur, wenn da auch … sind da künstliche Aromastoffe drin?“

„Jede Menge.“ Sie lächelte Oskar so böse an, als wollte sie sagen: Genug, um kleine Kinder, die mir auf die Nerven gehen, so richtig schön zu vergiften.

„Gut.“ Ich konnte es nicht sehen, aber ich wette, Oskar zuckte hinter der großen schwarzen Sonnenbrille nicht mit der Wimper. „Dann bitte lieber zwei Kugeln Vanille und dafür keine Zitrone. Die echte Gewürzvanille ist eine Orchidee, wissen Sie.“

„Interessiert mich nicht.“

Oskar starrte sie an. Seine kleinen Finger mit den abgekauten Nägeln begannen einen Trommelwirbel auf dem Tresen zu schlagen , ta-ramm, ta-ramm . „Die Vanillepflanze“, erklärte er unbeirrt weiter, „muss von Arbeiterinnen auf Madagaskar und Réunion mit Kaktus- oder Bambusstacheln künstlich bestäubt werden, um in ausreichenden Mengen auf dem Weltmarkt verkauft werden zu können.“

„Tatsächlich.“

Das Eiskugelrauskratzding klapperte. Die erste Kugel Erdbeereis landete im Becher.

„Das ist keine schöne Arbeit“, ta-ramm, ta-ramm , „und sie wird schlecht bezahlt.“

„So, so.“

ZACK, Pistazie, ZACK, Tiramisu …

„Und künstliche Vanille ist völlig unschädlich.“

„Was du nicht sagst. Wo war noch mal das Karamell?“

Oskars Finger kamen zur Ruhe . „An fünfter Stelle. Aber zählen konnten wir ja eigentlich bis sieben.“ Die Eisfrau schnaubte bloß. Oskar wandte sich zu mir um. „In deinem Eis ist sie auch drin.“

Ich starrte meine Waffel an, als hätte sich ein Tierchen darin versteckt. „Wer?“

„Die künstliche Vanille.“

Ich nickte und tippte mit der Zungenspitze vorsichtig gegen die Schokokugeln . Sie schmeckten okay. Hinter mir klapperte das Eiskugelrauskratzding immer schneller. Ich hatte noch nie überlegt, ob irgendwo irgendwer dafür schlecht bezahlt wurde, dass er mit Kaktusstacheln was natürlich Unschädliches zu essen herstellte, das künstlich genauso unschädlich war.

Die Eisfrau reichte Oskar seinen Becher über den Tresen nach unten und ich hielt ihr den Zehneuroschein hin. Als sie mir das Wechselgeld herausgab, tat ich so, als würde ich es schnell nachzählen, bevor ich es in die Hosentasche klimpern ließ.

„Tschüs“, sagte ich. „Bis bald mal wieder.“

Die Eisfrau hob das Eiskugelrauskratzding wie eine Waffe und murmelte etwas wie: Nur über meine Leiche. …

Lösungshinweise:

  Zu Lernaufgabe A 2: Die Stellen mit Körpersprache sind unterstrichen.

Aus: Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Illustrationen von Peter Schössow. Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2009. S. 36−40.

 

M 4a: Die Kessler-Zwillinge

  In allen Zeitungen und im Fernsehen wurde darüber berichtet, wie Rico und Oskar in den Sommerferien den ALDI-Kidnapper zur Strecke gebracht haben. Seitdem sind die beiden berühmt. Alle Bewohner der Dieffenbachstraße sprechen sie auf ihr Abenteuer an. Aber die neugierigsten Nachbarn sind ohne Zweifel die Kessler-Schwestern.

  … Alle im Haus wissen, dass Mama bis mittags schläft und man sie nicht wecken darf. Die Einzigen, die sich daran nicht halten, sind die doppelten Kessler-Zwillinge.

Bitte nicht , dachte ich, als ich die Tür aufmachte. Sie waren es leider bitte doch. Zwar nur die Hälfte, aber ausgerechnet die Mädchen.

„Hallo, Rico!“ (A 3) Mele mir ins Gesicht. Eigentlich heißt sie Semele, aber niemand

nennt sie so. Über ihre Schulter hinweg sah ich die Tür zur oberen Kessler-Wohnung offen stehen. „Wir sind wieder da!“

Das wusste spätestens jetzt das ganze Haus. Mit etwas Glück hatte auch Fitzke es gehört und tauchte gleich auf, um Mele wegen Ruhestörung oder öffentlicher Erregung von Ärgernis zusammenzustauchen. …

„Wann seid ihr wiedergekommen?“, sagte ich.

„Heute Morgen, ganz früh!“, (A 3) Mele. „Wir haben im Auto geschlafen! Jonathan hat geschnarcht!“

(B 3) Von den doppelten Kesslers sind Jonathan und Ludwig das harmlosere Pärchen, aber sie sind ja auch erst sechs. Mele und Afra sind knapp ein Jahr älter, aber mindestens zehn Jahre nerviger. Ich stellte mir lieber nicht vor, wie die Kesslers zu sechst in ihrem riesigen Wagen gehockt hatten, eingequetscht wie (A 5) , von denen eine auch noch schnarchte. Ich hab`s nicht gerne eng um mich rum.

Afra stand neben ihrer Schwester, (A 3) nur albern und glotzte mich an. Ihre Zunge lugte ein Stückchen aus dem Mund. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass sie mich wie (A 5) . Neben ihr, auf der Türschwelle, war eine kleine, grüne Sporttasche abgestellt.

Es gibt eineiige und zweieiige Zwillinge. Die aus einem Ei sehen genau gleich aus, und manchmal wünsche ich mir, das träfe auch auf die Kessler-Mädchen zu. Dann würde ich mich nur halb so oft erschrecken, wenn ich einer von ihnen im Treppenhaus begegne. Mele und Afra tragen die Haare zwar beide schulterlang, aber das war`s leider auch schon mit der Ähnlichkeit. Mele hat blonde Locken und blaue Augen und ist größer als ihre Schwester, während Afra braune glatte Haare hat und graue Augen.

„Was wollt ihr?“, sagte ich.

„Hallo sagen!“, (A 3) Mele. „Dürfen wir reinkommen?“ Afra (A 3) .

„Meine Mutter schläft noch“, (A 3) ich. „Also schrei gefälligst nicht so hier rum!“

„Können wir trotzdem reinkommen?“, (A 3) Mele, endlich in normaler Lautstärke.

„Unsere Ferien waren toll, wie waren deine? Hast du uns vermisst?“

„Kann sein, ich hab mal an euch gedacht.“ (B 3)

Es war ganz klar, dass Mele und Afra bloß hier waren, weil sie alles, was sie im Urlaub über die Entführungen in Berlin gehört, gesehen oder gelesen hatten, noch mal von mir hören wollten. Jede Einzelheit. Der Entführer hatte im selben Haus gewohnt wie sie. Ich wohnte im selben Haus wie sie. Damit war ich mindestens so gut wie ein Popstar. Und nicht nur ich, sondern selbstverständlich auch -

„Das ist der andere!“, (A 3) Afra plötzlich.

Ich drehte mich um. Hinter mir stand Oskar. Er hielt eine Schrippe in der Hand, von der zu beiden Seiten das Nutella förmlich runtertropfte, und seine Oberlippe war braun beschmiert. Er sah völlig beknackt aus mit der riesigen Sonnenbrille, aber Afra starrte ihn trotzdem so begeistert an wie (A 5). Woran man sieht, dass manche Mädchen nicht nur sensibel und leicht verletzlich sind, sondern auch hoffnungslos bescheuert, denn es würde ja wohl kein Junge auf der Welt freiwillig Schlüpfer mir rosafarbenen Blümchen oder kleinen Schmetterlingen drauf anziehen.

„Was für ein anderer?“, sagte Oskar.

Neben ihm ging die Schlafzimmertür auf und Mama trat in den Flur, völlig verschlafen. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihren Morgenmantel mit den schönen japanischen Schriftzeichen überzuwerfen. Ein T-Shirt hatte sie auch nicht an. Oskar guckte entgeistert auf ihren nackten Busen. Ich war heilfroh, dass Mama gestern nicht bei einem Rockkonzert gewesen war; so trug sie immerhin noch einen Slip. „Mele?“, sagte sie mit einer Stimme wie (A 5) .

„Ja, Frau Doretti?“

„Schnapp dir deine Schwester. Und dann seht zu, dass ihr Land gewinnt. Besuchszeit ist später.“

„Aber-“

„Ich hab noch zwei freie Plätze vor meinem Fenster. Wenn ich euch da raushänge, denken die Leute, das Haus hätte `ne Krawatte.“ (A 3)

„Wir wollten ja bloß −“ (A 3)

„Abmarsch!“ (A 3

„Genau!“ Ich zeigte nach unten. „Und vergesst eureTasche nicht.“

Mele warf den Lockenkopf in den Nacken, wirbelte herum und schoss auf ihre Wohnung zu, gefolgt von Afra, die aus irgendeinem Grund schon wieder kicherte.

Kurz vor ihre Tür drehte sie sich noch mal um. „Die blöde Tasche gehört uns nicht“, (A 3) . „Die stand schon da.“

Sie knallte ihre Tür so laut und fest zu, dass das Treppengeländer wackelte. Fitzke konnte unmöglich zu Hause sein. Er wäre sonst längst wie (A 5) auf die Mädchen runtergekommen.

„Zwei“, sagte Oskar neben mir abwesend.

„Was?“

„Das Haus hätte zwei Krawatten.“ (A 3)

Aus: Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Illustrationen von Peter Schössow. © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2009. S. 80−84

 

M 4b: Die Kessler-Zwillinge

  … Alle im Haus wissen, dass Mama bis mittags schläft und man sie nicht wecken darf. Die Einzigen, die sich daran nicht halten, sind die doppelten Kessler- Zwillinge.

Bitte nicht, dachte ich, als ich die Tür aufmachte. Sie waren es leider bitte doch. Zwar nur die Hälfte, aber ausgerechnet die Mädchen.

„Hallo, Rico!“ brüllte Mele mir ins Gesicht. Eigentlich heißt sie Semele, aber niemand nennt sie so. Über ihre Schulter hinweg sah ich die Tür zur oberen Kessler-Wohnung offen stehen. „Wir sind wieder da!“

Das wusste spätestens jetzt das ganze Haus. Mit etwas Glück hatte auch Fitzke es gehört und tauchte gleich auf, um Mele wegen Ruhestörung oder öffentlicher Erregung von Ärgernis zusammenzustauchen. …

„Wann seid ihr wiedergekommen?“, sagte ich.

„Heute Morgen, ganz früh!“, brüllte Mele. „Wir haben im Auto geschlafen! Jonathan hat geschnarcht!“

Tolle Neuigkeiten. Von den doppelten Kesslers sind Jonathan und Ludwig das harmlosere Pärchen, aber sie sind ja auch erst sechs. Mele und Afra sind knapp ein Jahr älter, aber mindestens zehn Jahre nerviger. Ich stellte mir lieber nicht vor, wie die Kesslers zu sechst in ihrem riesigen Wagen gehockt hatten, eingequetscht wie die Ölsardinen, von denen eine auch noch schnarchte. Ich hab`s nicht gerne eng um mich rum.

Afra stand neben ihrer Schwester, kicherte nur albern und glotzte mich an. Ihre Zunge lugte ein Stückchen aus dem Mund. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass sie mich wie ein Jack Russell anspringen und ablecken wollte. Neben ihr, auf der Türschwelle, war eine kleine, grüne Sporttasche abgestellt.

Es gibt eineiige und zweieiige Zwillinge. Die aus einem Ei sehen genau gleich aus, und manchmal wünsche ich mir, das träfe auch auf die Kessler-Mädchen zu.

Dann würde ich mich nur halb so oft erschrecken, wenn ich einer von ihnen im Treppenhaus begegne. Mele und Afra tragen die Haare zwar beide schulterlang, aber das war`s leider auch schon mit der Ähnlichkeit. Mele hat blonde Locken und blaue Augen und ist größer als ihre Schwester, während Afra braune glatte Haare hat und graue Augen.

„Was wollt ihr?“, sagte ich.

„Hallo sagen!“, brüllte Mele. „Dürfen wir reinkommen?“ Afra giggelte.

„Meine Mutter schläft noch“, flüsterte ich. „Also schrei gefälligst nicht so hier rum!“

„Können wir trotzdem reinkommen?“, sagte Mele, endlich in normaler Lautstärke. „Unsere Ferien waren toll, wie waren deine? Hast du uns vermisst?“

„Kann sein, ich hab mal an euch gedacht.“

Man muss vorsichtig sein mit dem, was man zu kleinen Mädchen sagt. Sie fangen sonst ruck, zuck an zu heulen, denn sie sind sensible und leicht verletzliche Wesen. Das hat mir Jule mal erklärt, als sie sich mit Mama darüber unterhielt, dass Männer auf den Gefühlen von Frauen immer nur rumtrampeln.

Es war ganz klar, dass Mele und Afra bloß hier waren, weil sie alles, was sie im Urlaub über die Entführungen in Berlin gehört, gesehen oder gelesen hatten, noch mal von mir hören wollten. Jede Einzelheit. Der Entführer hatte im selben Haus gewohnt wie sie. Ich wohnte im selben Haus wie sie. Damit war ich mindestens so gut wie ein Popstar. Und nicht nur ich, sondern selbstverständlich auch −

„Das ist der andere!“, röhrte Afra plötzlich. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Oskar. Er hielt eine Schrippe in der Hand, von der zu beiden Seiten das Nutella förmlich runtertropfte, und seine Oberlippe war braun beschmiert. Er sah völlig beknackt aus mit der riesigen Sonnenbrille, aber Afra starrte ihn trotzdem so begeistert an wie eins von diesen kreischenden Mädchen, die bei Rockkonzerten den Jungen auf der Bühne Teddybären und ihre Unterwäsche zuwerfen. Woran man sieht, dass manche Mädchen nicht nur sensibel und leicht verletzlich sind, sondern auch hoffnungslos bescheuert, denn es würde ja wohl kein Junge auf der Welt freiwillig Schlüpfer mir rosafarbenen Blümchen oder kleinen Schmetterlingen drauf anziehen „Was für ein anderer?“, sagte Oskar.

Neben ihm ging die Schlafzimmertür auf und Mama trat in den Flur, völlig verschlafen. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihren Morgenmantel mit den schönen japanischen Schriftzeichen überzuwerfen. Ein T-Shirt hatte sie auch nicht an. Oskar guckte entgeistert auf ihren nackten Busen. Ich war heilfroh, dass Mama gestern nicht bei einem Rockkonzert gewesen war; so trug sie immerhin noch einen Slip.

„Mele?“, sagte sie mit einer Stimme wie ein Eiswürfel.

„Ja, Frau Doretti?“

„Schnapp dir deine Schwester. Und dann seht zu, dass ihr Land gewinnt. Besuchszeit ist später.“

„Aber −“

„Ich hab noch zwei freie Plätze vor meinem Fenster. Wenn ich euch da raushänge, denken die Leute, das Haus hätte `ne Krawatte.“

„Wir wollten ja bloß …“

„Abmarsch!“

„Genau!“ Ich zeigte nach unten. „Und vergesst eureTasche nicht.“

Mele warf den Lockenkopf in den Nacken, wirbelte herum und schoss auf ihre Wohnung zu, gefolgt von Afra, die aus irgendeinem Grund schon wieder kicherte. Kurz vor ihrer Tür drehte sie sich noch mal um. „Die blöde Tasche gehört uns nicht“, rief sie schnippisch. „Die stand schon da.“

Sie knallte ihre Tür so laut und fest zu, dass das Treppengeländer wackelte. Fitzke konnte unmöglich zu Hause sein. Er wäre sonst längst wie ein Gewitter auf die Mädchen runtergekommen.

„Zwei“, sagte Oskar neben mir abwesend.

„Was?“

„Das Haus hätte zwei Krawatten.“ …

Aus: Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Illustrationen von Peter Schössow. © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2009. S. 80−84

 

M 5a: Herr Fitzke

  Zu den Bewohnern der Dieffenbachstraße gehört auch Herr Fitzke. Er ist bei allen Nachbarn ziemlich unbeliebt, weil er so grantig und so ungepflegt ist. Aber er spielte bei der Festnahme des ALDI-Kidnappers eine wichtige Rolle. Seitdem verhält er sich etwas freundlicher zu Rico. Aber der muss sich noch daran gewöhnen.

  … „Herr Fitzke!“

Er sah aus wie ein (A 4) Mensch. Seine Haare, die ihm sonst in alle Richtungen vom Kopf abstehen, waren (A 4) und (A 4). Ich entdeckte keine einzige Bartstoppel in dem (A 4) Gesicht. Außerdem trug Fitzke einen Anzug und nicht wie sonst, wenn er das Haus verließ, seinen (A 4) Pyjama. Das graue Jackett war etwas (A 4) an den Ärmeln, aber (A 4). Und falls die Hose müffelte, dann auf jeden Fall nicht in unsere Richtung.

„Tach, Doretti.“

(B 3) Normalerweise spricht er mit so (A 4) Stimme, als sollte (A 5). Normalerweise lächelt Fitzke auch nicht, aber jetzt verzog er die Mundwinkel millimeterweise nach oben, als hätte (A 5).

„Plätzchen und Saft“, sagte er und hob seine Einkaufstasche hoch. „Mehr gibt`s nachher nicht, ich will also kein Gemecker hören. Drei Uhr bei mir.“

Ich konnte ihn nur anstarren.

„Nun glotz nicht so (A 4) !“ Er zeigte neben mich, als wäre (A 5) . „Den da kannst du mitbringen.“

„Der da heißt Oskar“, sagte ich.

„Weiß ich“, schnappte Fitzke, „stand ja in jeder Zeitung! Außerdem sind wir uns schon mal begegnet, im Treppenhaus.“ Jetzt sah er Oskar direkt an. „Du bist der kleine Scheißer aus der Klapsmühle, der meine Tür einschlagen wollte. Wo ist dein Sturzhelm?“

„Zu Hause gelassen“, murmelte Oskar.

„Was? Zieh die Brille ab, sonst kann ich dich nicht hören.“

Oskar schob wortlos die Brille ein Stück hoch. Seine grünen Augen waren so traurig und trübe wie (A 5) . Normalerweise hätte er sich solche Frechheiten niemals gefallen lassen. Mir fiel leider auch nichts Passendes ein, weil in meinem Kopf seit einer Minute die Bingotrommel durchdrehte. Fitzke war Fitzke, aber er war auch wieder nicht Fitzke.

„Du Knalltüte, das war ein Scherz!“, blaffte Fitzke. „Setz die Brille wieder auf. Runterfallen kann sie ja wohl kaum, bei den Ohren.“

„Jemanden wie Sie besuche ich nicht.“ Oskars Stimme wackelte. Seine Finger bewegten sich zu seinen Seiten, als (A 5) . „Sie sind bösartig.“

Jetzt wackelte auch noch sein Kinn. Im nächsten Moment drehte er sich um und stürmte über die Querstraße davon, die Dieffe runter. Er schaute nicht mal nach links oder rechts oder andersrum.

Fitzke reckte den Kopf und sah ihm nach. Von unten konnte ich ihm genau in die Nasenlöcher gucken. Es hingen lange Härchen raus, die er bei der Körperpflege wohl übersehen hatte. „Was ist los mit dem?“, schnaubte er. „Verträgt der keinen Spaß?“

„Er hat es an den Nerven“, sagte ich und spurtete ebenfalls los.

„Und ich hab`s am Herzen!“ schrie Fitzke mir nach. „Ihr zwei, drei Uhr, vierter Stock, verstanden? Plätzchen und Saft!“

Meine Schritte echoten seine Worte auf dem Kopfsteinpflaster, zwei, drei, vier… zwei, drei, vier … Irgendwie passte es zu diesem Tag, dass vorne die Eins fehlte.

Aus: Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Illustrationen von Peter Schössow. © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2009. S. 87 - 89

 

M 5b: Herr Fitzke

  … „Herr Fitzke!“

Er sah aus wie ein neuer Mensch. Seine Haare, die ihm sonst in alle Richtungen vom Kopf abstehen, waren gewaschen und frisiert. Ich entdeckte keine einzige Bartstoppel in dem verknitterten Gesicht. Außerdem trug Fitzke einen Anzug und nicht wie sonst, wenn er das Haus verließ, seinen miefigen gestreiften Pyjama. Das graue Jackett war etwas abgewetzt an den Ärmeln, aber blitzsauber. Und falls die Hose müffelte, dann auf jeden Fall nicht in unsere Richtung.

„Tach, Doretti.“

Ich konnte es nicht glauben. Normalerweise nennt er mich Schwachkopf. Normalerweise spricht er mit so knurriger Stimme, als sollte jedes einzelne Wort einem in den Hintern beißen. Normalerweise lächelt Fitzke auch nicht, aber jetzt verzog er die Mundwinkel millimeterweise nach oben, als hätte ihm jemand erklärt, wie ein Lächeln in etwa aussieht, wenn man lange genug übt.

„Plätzchen und Saft“, sagte er und hob seine Einkaufstasche hoch. „Mehr gibt`s nachher nicht, ich will also kein Gemecker hören. Drei Uhr bei mir.“

Ich konnte ihn nur anstarren.

„Nun glotz nicht so dämlich!“ Er zeigte neben mich, als wäre da soeben zufällig irgendwas vom Himmel auf den Gehsteig gestürzt oder aus dem Rasen zwischen den Pflastersteinen rausgewachsen. „Den da kannst du mitbringen.“

„Der da heißt Oskar“, sagte ich.

„Weiß ich“, schnappte Fitzke, „stand ja in jeder Zeitung! Außerdem sind wir uns schon mal begegnet, im Treppenhaus.“ Jetzt sah er Oskar direkt an. „Du bist der kleine Scheißer aus der Klapsmühle, der meine Tür einschlagen wollte. Wo ist dein Sturzhelm?“

„Zu Hause gelassen“, murmelte Oskar.

„Was? Zieh die Brille ab, sonst kann ich dich nicht hören.“

Oskar schob wortlos die Brille ein Stück hoch. Seine grünen Augen waren so traurig und trübe wie ein Teich voller Algen. Normalerweise hätte er sich solche Frechheiten niemals gefallen lassen. Mir fiel leider auch nichts Passendes ein, weil in meinem Kopf seit einer Minute die Bingotrommel durchdrehte. Fitzke war Fitzke, aber er war auch wieder nicht Fitzke.

„Du Knalltüte, das war ein Scherz!“, blaffte Fitzke. „Setz die Brille wieder auf. Runterfallen kann sie ja wohl kaum, bei den Ohren.“

„Jemanden wie Sie besuche ich nicht.“ Oskars Stimme wackelte. Seine Finger bewegten sich zu seinen Seiten, als suchten sie etwas, worauf sie herumtrommeln konnten. „Sie sind bösartig.“

Jetzt wackelte auch noch sein Kinn. Im nächsten Moment drehte er sich um und stürmte über die Querstraße davon, die Dieffe runter. Er schaute nicht mal nach links oder rechts oder andersrum.

Fitzke reckte den Kopf und sah ihm nach. Von unten konnte ich ihm genau in die Nasenlöcher gucken. Es hingen lange Härchen raus, die er bei der Körperpflege wohl übersehen hatte. „Was ist los mit dem?“, schnaubte er. „Verträgt der keinen Spaß?“

„Er hat es an den Nerven“, sagte ich und spurtete ebenfalls los.

„Und ich hab`s am Herzen!“ schrie Fitzke mir nach. „Ihr zwei, drei Uhr, vierter Stock, verstanden? Plätzchen und Saft!“

Meine Schritte echoten seine Worte auf dem Kopfsteinpflaster, zwei, drei, vier … zwei, drei, vier … Irgendwie passte es zu diesem Tag, dass vorne die Eins fehlte. …

Aus: Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Illustrationen von Peter Schössow. © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2009. S. 87−89

 

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