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Zei­tungs­ar­ti­kel

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Eine Frage der Frei­heit

Von Wer­ner Leit­ner / Süd­deut­sche Zei­tung, Ru­brik „Au­ßen­an­sicht“

In Mün­chen-Solln und an­ders­wo: Straf­ver­tei­di­ger müs­sen un­an­ge­nehm und schmerz­haft sein

Wie ver­tei­digt man ei­gent­lich je­man­den, von dem man weiß, dass er es ge­we­sen ist?" Jeder Straf­ver­tei­di­ger kennt diese Frage, ir­gend­wann wird sie immer ge­stellt. Ei­ni­ge tau­send An­wäl­tin­nen und An­wäl­te ma­chen in Deutsch­land neben an­de­rem auch Fälle aus dem Straf­recht, ein we­sent­lich klei­ne­rer Kreis hat sich aus­schließ­lich dar­auf spe­zia­li­siert.

Das öf­fent­li­che Bild des Straf­ver­tei­di­gers ist nicht ein­fach zu be­schrei­ben. Sta­tis­tisch ge­se­hen kom­men 90 Pro­zent der Be­völ­ke­rung nie mit dem Straf­recht in Be­rüh­rung, sie ma­chen sich ihr Bild aus den Me­di­en. Er­grei­fen­de Plä­doy­ers in gro­ßen Ki­no­fil­men zeich­nen die Ver­tei­di­gung gerne als Kö­nigs­dis­zi­plin der Ad­vo­ka­tur. Am Schluss siegt ver­läss­lich das Gute. In dem Spiel­film "Eine Frage der Ehre" be­fragt der junge Ver­tei­di­ger (Tom Crui­se) den aus­ge­buff­ten Ge­ne­ral (Jack Ni­chol­son) im Zeu­gen­stand und er­kämpft im spek­ta­ku­lä­ren Kreuz­ver­hör den Frei­spruch für zwei Ge­frei­te. Das Fern­se­hen bie­tet lär­men­de Ge­richts­shows, die mit der Rea­li­tät zwar nichts zu tun haben, aber die Vor­stel­lung vom Straf­pro­zess zu­neh­mend prä­gen. Das ist so, als wolle man sich mit "Dr. House" oder frü­her der "Schwarz­wald­kli­nik" ein Bild über Ärzte ma­chen. Die Rea­li­tät da­ge­gen fin­det tag­täg­lich viel­hun­dert­fach und weit­ge­hend un­be­ob­ach­tet in den Ge­richts­sä­len der Re­pu­blik statt. Nur die spek­ta­ku­lä­ren Fälle wer­den wahr­ge­nom­men, dann aber weit über das Ge­richts­ge­bäu­de hin­aus. Ur­sprüng­lich soll­te die Saal­öf­fent­lich­keit den An­ge­klag­ten vor einem Ge­heim­pro­zess schüt­zen. Aus ihr ist eine Me­di­en­öf­fent­lich­keit ge­wor­den, aus dem Schutz ein Pran­ger.

Bei den Straf­ver­tei­di­gern hat sich wie bei den Ärz­ten eine Spe­zia­li­sie­rung her­aus­ge­bil­det. Es gibt mitt­ler­wei­le unter an­de­rem Ex­per­ten für Rausch­gift­de­lik­te, Se­xu­al­straf­ta­ten, Stra­ßen­ver­kehr, Ju­gend­sa­chen und auch einen klei­nen Kreis von Spe­zia­lis­ten, die sich mit dem Wirt­schafts­straf­recht be­fas­sen. Man spielt ver­schie­de­ne In­stru­men­te, aber letzt­lich nach den glei­chen Noten. Denn da ist immer ein Man­dant, der sich als Ein­zel­ner der Macht des Staa­tes und sei­ner Straf­ge­walt ge­gen­über­sieht. Das ist die Aus­gangs­la­ge, in der er einem Ver­tei­di­ger die Wahr­neh­mung sei­ner Rech­te an­ver­traut.

In der Öf­fent­lich­keit stößt Ver­tei­di­gung durch­aus auf Ver­ständ­nis, vor allem dann, wenn der Fall span­nend und der oder die An­ge­klag­te Sym­pa­thie­trä­ger ist. Von Vera Brüh­ne über Mo­ni­ka Wei­mar bis Jörg Ka­chel­mann reicht da das Spek­trum. Straf­ver­tei­di­gung, das sind aber auch die Fälle von Kof­fer­bom­ber bis Kinds­tö­tung; über­haupt all die furcht­ba­ren Kri­mi­nal­fäl­le, die in die tiefs­ten Ab­grün­de mensch­li­chen We­sens hin­ein­ge­hen. Schul­dig oder nicht schul­dig ist dabei eher sel­ten die Frage. Im All­tag der Straf­jus­tiz geht es sehr oft um die Frage: wie schul­dig? - also um die so­ge­nann­te Straf­zu­mes­sung, um das, was auf den An­ge­klag­ten an Stra­fe zu­kommt. Das ist dann ein schwie­ri­ges Thema. Hier das Opfer, der Ruf nach Sühne, nach har­ter Stra­fe, nach dem star­ken Staat. Dort der Täter, für den ei­gent­lich nichts mehr spricht. Außer seine Ver­tei­di­ge­rin oder sein Ver­tei­di­ger. In der Schweiz hei­ßen Straf­ver­tei­di­ger "Für­spre­cher", aber die Funk­ti­on ist in allen Rechts­staa­ten der Welt am Ende die glei­che. Nur Un­rechts­sys­te­me wol­len keine Ver­tei­di­ger, denn Für­spre­cher stel­len auch un­an­ge­neh­me Fra­gen.

Es gibt Fälle wie das Ge­sche­hen am S-Bahn­hof Mün­chen-Solln, in denen für die Ver­tei­di­gung schein­bar nichts zu ge­win­nen ist. Die Staats­an­walt­schaft hat sich sehr früh fest­ge­legt, die Öf­fent­lich­keit das Ur­teil be­reits ge­fällt. Ein Held ist zu Tode ge­kom­men, ein post­hu­mer Or­dens­trä­ger. Sein Name steht für Zi­vil­cou­ra­ge - zu Recht. Die Namen der An­ge­klag­ten in­ter­es­sie­ren nicht. Warum auch? Es geht doch nur noch um die jus­tiz­för­mi­ge Ab­wick­lung die­ser schreck­li­chen Tra­gö­die, in der Gut und Böse klar ver­teilt ist. Ein hilfs­be­rei­ter Mensch wurde zu Tode ge­bracht, Schlä­ger haben sein Leben zer­stört.

Aber: Ihr ei­ge­nes Leben muss­ten sie nicht mehr zer­stö­ren, das Da­sein die­ser Stra­ßen­kin­der war lange schon ka­putt und per­spek­tiv­los. Fälle wie der aus Solln ver­lei­ten dazu, vor der Rea­li­tät die Augen zu ver­schlie­ßen und un­an­ge­neh­me Fra­gen zu ver­drän­gen. Wie konn­te es zu so ka­put­ten Bio­gra­phi­en kom­men? Wo kommt diese rohe Ge­walt her? Was hat sie aus­ge­löst? Wie viel so­zia­le Ver­wahr­lo­sung ist um uns herum? Was er­zeugt Ge­walt bei Ju­gend­li­chen?

Ver­tei­di­gung ist deut­lich mehr, als den An­ge­klag­ten auf sei­nem Weg zum Ur­teil "zu be­glei­ten". Sie muss kon­trol­lie­ren, auf­klä­ren und dazu Fra­gen stel­len, auch kri­ti­sche und schmerz­haf­te. Das kann be­deu­ten, auch "das Un­er­hör­te zu Gehör zu brin­gen", wie Max Als­berg, einer der gro­ßen Straf­ver­tei­di­ger des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, das ein­mal ge­nannt hat. Es zeich­net den Rechts­staat aus, dass er das zu­lässt. Kon­trol­le und Auf­klä­rung sind wich­ti­ge Re­gu­la­ti­ve staat­li­cher Macht. Wer en­ga­giert ver­tei­digt und kri­ti­sche Fra­gen stellt, macht sich des­halb auch nicht mit der Tat ge­mein. Ein Straf­ver­tei­di­ger ver­tei­digt immer den Täter, nicht die Tat. Er wird das mit dem Nach­druck tun, den der Fall er­for­dert. Das kön­nen leise oder laute Töne sein, das kann Deal oder Kon­flikt be­deu­ten. Manch­mal wird das als ob­struk­tiv emp­fun­den und scheint dem ge­rech­ten Ur­teil im Wege zu ste­hen, ja sogar Stra­fe zu ver­ei­teln.

Viel­leicht hilft ein Ver­gleich: Der Arzt, der ope­riert, be­geht mit sei­nem Skal­pell recht­lich auch immer den Tat­be­stand der Kör­per­ver­let­zung. Erst die Ein­wil­li­gung des Pa­ti­en­ten macht den Ein­griff legal. Ver­gleich­bar dazu er­füllt der An­walt, der sei­nen Man­dan­ten ver­tei­digt, oft auch den Tat­be­stand der Straf­ver­ei­te­lung. Doch der ge­setz­li­che Auf­trag macht sein Han­deln recht­mä­ßig, das Stel­len von Fra­gen wird auf diese Weise zu sei­ner rechts­staat­li­chen Pflicht.

Das führt di­rekt zu­rück zur Ein­gangs­fra­ge und lie­fert gleich­zei­tig die Ant­wort: Ge­ra­de an den aus­sichts­lo­sen Fäl­len zeigt sich, wie viel Rechts­staat wir uns leis­ten - und vor allem, wie viele Fra­gen an sich selbst die­ser Rechts­staat zu­lässt. Wer sonst soll­te sie stel­len, wenn nicht der Ver­tei­di­ger? Ernst­ge­nom­me­ne Straf­ver­tei­di­gung dient also nicht nur den In­ter­es­sen des An­ge­klag­ten, son­dern auch dem Rechts­staat selbst. Sie will dafür nicht be­wun­dert, aber in jedem Fall re­spek­tiert wer­den. Auch wenn es manch­mal schwer­fällt.


(Quel­le: Süd­deut­sche Zei­tung, Diens­tag, den 13. April 2010 , Seite 2)

Wer­ner Leit­ner, 50, ist Straf­ver­tei­di­ger in Mün­chen. Er ist Vor­sit­zen­der der Ar­beits­ge­mein­schaft Straf­recht im Deut­schen An­walt­ver­ein.

 

Mo­der­ne Quel­len: Her­un­ter­la­den [pdf] [446 KB]