Lösungshinweise
Infobox
Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Ist Agnes tot?
Welche Hinweise im Text legen diese Lösung nahe?
- Der erste Satz, mit dem der Erzähler ein Faktum gibt. („Agnes ist tot.“)
- Die Verknüpfung der Motive (Vgl. AB Motive)
- Die Übereinstimmung zwischen der Geschichte von Agnes des Erzählers (Version 2 des Endes), die den Tod Agnes betont und der Romanwirklichkeit. Diese Textstelle kann man als Vorausdeutung auf Agnes’ Ende lesen.
Allerdings wird Agnes’ Tod dem Leser durch den Ich-Erzähler nahe gelegt: Der Leser hat durch die subjektive Erzählinstanz des Ich-Erzählers eine eingeschränkte Sichtweise auf die Romanwirklichkeit. Er wird vom Erzähler gelenkt. Für den Erzähler ist Agnes’ Tod das für ihn logische Ende der Figur.
Peter Stamm hat in einem Interview zu dieser Frage Stellung genommen:
"Na ja, die Übereinstimmung ist nicht so klar. Man weiß nicht wirklich, ob sie das tut, was er aufgeschrieben hat. Für ihn tut sie es, glaube ich, das zeigt eher, in welcher geistigen Verfassungerst, dass ereben gar nicht mehr anders denken kann, als dass Agnes vorzieht, was ergeschrieben hat. Ich sage oft in Schulen, wenn die Frage kommt, dass esunwahrscheinlich ist, dass sie sich umbringt. Psychologisch betrachtet:was würde ich machen, wenn eine Freundin über mich schreibt, dass ichmich umbringe? Dann würde ich vermutlich sagen: diese Beziehung hatkeine Basis mehr. Oder ich gehe vielleicht besser weg, aber ich würde mich bestimmt nicht umbringen.
Aber das ist auch nicht so wichtig, es geht in dem Buch nicht darum, eine reale Beziehung zu beschreiben, sondern in gewissem Sinne darum,die Macht der Beziehung zu zeigen. … "
(Peter Stamm anlässlich der Sankelmark-Tagung in Schleswig Holstein 2010 / in: Literatur im Unterricht . Wissenschaftlicher Verlag Trier 12. Jahrgang, Heft 3, 2011)
Arbeitsauftrag
1. Deuten Sie vor diesem Hintergrund die zweite Version des Endes der Geschichte von Agnes. Berücksichtigen Sie vor allem den Satz „ Langsam gewann sie das Gefühl zurück, …“
Der Wind blies böig. Das Brausen in Agnes' Ohren überdeckte jedes andere Geräusch, jeden Gedanken. Sie verirrte sich auf den verschlungenen Wegen und mußte lange suchen, bis sie den Platz im Wald wiederfand. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren, und der See war zugefroren. Aber Agnes erkannte die Stelle. Sie zog ihre Handschuhe aus und fuhr mit den Händen über die eiskalten Stämme der Bäume. Sie fühlte nicht die Kälte, aber sie spürte die schorfige Rinde an ihren fast tauben Fingerkuppen. Dann kniete sie nieder, legte sich hin und drückte ihr Gesicht in den pulvrigen Schnee. Langsam gewann sie das Gefühl zurück , erst in den Füßen, in den Händen, dann in den Beinen und Armen, es breitete sich aus, wanderte durch ihre Schultern und ihren Unterleib zu ihrem Herzen , bis es ihren ganzen Körper durchdrang und es ihr schien, als liege sie glühend im Schnee , als müsse der Schnee unter ihr schmelzen.
(S. 152) [1]
Lösung
Eine definitive Antwort, ob Agnes tot ist oder nicht, wird nicht gegeben. Das Ende des Romans bleibt offen.
Es gibt Signale, dass Agnes tatsächlich zu einem eigenen Leben findet: Dies ist allerdings nur möglich, wenn sie sich von dem Erzähler trennt. Anfänge werden z.B. nach ihrer Rückkehr deutlich, wenn sie Dinge ohne den Erzähler unternimmt.
Es ist möglich, die zweite Version der Geschichte als einen Neuanfang der Figur Agnes zu lesen, als Emanzipation von der einengenden Beziehung mit dem Erzähler. (Agnes hat schon einmal den Erzähler verlassen)
Der Text (Version 2) zeigt ihren Tod auf der Erzählebene als Geschöpf des Erzählers. Gleichzeitig imaginiert dieser Schluss ein mystisches Einswerden mit der Natur. – In der Eiseskälte erleidet Agnes den Tod, der sie zu einem neuen Leben erweckt. (Vgl. Zitat: Fettdruck) So gesehen kann man den Roman als den Entwicklungsprozess einer Selbstfindung deuten (Vgl. Zeitraum von neun Monaten). Mit dieser Deutung findet Agnes am Ende zu einer eigenen Identität. Allerdings bedeutet dies das Ende der Liebe. Der tragische Liebesverlust eröffnet eine imaginäre Zukunftsperspektive.
„Das kathartische, von romantischen Vorstellungen gezeichnete Schlußbild wird von Stamm mit einigen proleptischen Reflexionen, Szenen und Motiven vorbereitet.“ [2]
- Friedhof im Nationalpark "Es heißt, zu erfrieren sei ein schöner Tod. " (S. 78)
- Nach der Lektüre von Hermann Hesses Siddharta stellt sie sich:anschließend " eine Stunde lang barfuß in den Garten " , "um meine Gefühle abzutöten": "Das einzige Gefühl, das ich abtötete, war das in meinen Füßen. Es lag Schnee." (S. 119) Gegensatz: Das vom Erzähler erfundene Ende im Schnee wird ihre Gefühle erst zum Leben erwecken!
- Peter Stamms Roman-Titel kann sich auch auf ein Zitat aus John Keats ' 1820 erschienener Ballade The Eve of St. Agnes beziehen: Bündnis von Eros und Thanatos, und „verschlüsselt dabei erkennbar einen Liebestod, der die Agnes-Geschichte beschließt.'“ (Vollmer)
Didaktischer Kommentar
Erfahren die Schülerinnen und Schülern, dass es für beide Deutungsmöglichkeiten textbezogene Begründungen gibt, wird ihnen bewusst, dass Literatur offen angelegt ist und Erfahrungsspielraum eröffnet. Dies bedeutet allerdings keine Beliebigkeit des Interpretierens.
Bildungsplan BW 2004:
Die Schülerinnen und Schüler
- sollen erkennen, dass Literatur einen Spielraum von Deutungsmöglichkeiten eröffnet, und sind in der Lage unterschiedliche Interpretationsansätze textbezogen anzuwenden. (Leitgedanken)
- - können die Mehrdeutigkeit von literarischen Texten erläutern und sich im Interpretationsgespräch über unterschiedliche Lesarten verständigen. (Kursstufe)
[1] Peter Stamm: Agnes . S. Fischer Verlag 2009, 5. Auflage, Fischer (Tb) © 1998 by Peter Stamm
[2] Hartmut Vollmer, Peter Stamms Roman Agnes. Monatshefte, Vol. 100; No. 2, 2008, S. 270
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