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Tho­mas Mann: Der Tod in Ve­ne­dig

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Tho­mas Mann: Der Tod in Ve­ne­dig 1

Text 1 (S.22f) *Der grei­se Geck

Einer, in hell­gel­bem, über­mo­disch ge­schnit­te­nem Som­mer­an­zug, roter Kra­wat­te und kühn auf­ge­bo­ge­nem Pa­na­ma, tat sich mit krä­hen­der Stim­me an Auf­ge­räum­t­heit vor allen an­dern her­vor. Kaum aber hatte Aschen­bach ihn ge­nau­er ins Auge ge­faßt, als er mit einer Art von Ent­set­zen er­kann­te, daß der Jüng­ling falsch war. Er war alt, man konn­te nicht zwei­feln. Run­zeln um­ga­ben ihm Augen und Mund. Das matte Kar­me­sin der Wan­gen war Schmin­ke, das brau­ne Haar unter dem far­big um­wun­de­nen Stroh­hut Pe­rü­cke, sein Hals ver­fal­len und seh­nig, sein auf­ge­setz­tes Schnurr­bärt­chen und die Flie­ge am Kinn ge­färbt, sein gel­bes und voll­zäh­li­ges Gebiß, das er la­chend zeig­te, ein bil­li­ger Er­satz, und seine Hände, mit Sie­gel­rin­gen an bei­den Zei­ge­fin­gern, waren die eines Grei­ses. Schau­er­lich an­ge­mu­tet sah Aschen­bach ihm und sei­ner Ge­mein­schaft mit den Freun­den zu. Wuß­ten, be­merk­ten sie nicht, daß er alt war, daß er zu Un­recht ihre stut­zer­haf­te und bunte Klei­dung trug, zu Un­recht einen der Ihren spiel­te? Selbst­ver­ständ­lich und ge­wohn­heits­mä­ßig, wie es schien, dul­de­ten sie ihn in ihrer Mitte, be­han­del­ten ihn als ih­res­glei­chen, er­wi­der­ten ohne Ab­scheu seine ne­cki­schen Rip­pen­stö­ße. Wie ging das zu? Aschen­bach be­deck­te seine Stirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß waren, da er zu wenig ge­schla­fen hatte.

Text 2 (S.80ff) *Beim Fri­seur

Wie ir­gend­ein Lie­ben­der wünsch­te er, zu ge­fal­len und emp­fand bit­te­re Angst, daß es nicht mög­lich sein möch­te. Er fügte sei­nem An­zu­ge ju­gend­lich auf­hei­tern­de Ein­zel­hei­ten hinzu, er legte Edel­stei­ne an und be­nutz­te Par­füms, er brauch­te mehr­mals am Tage viel Zeit für seine Toi­let­te und kam ge­schmückt, er­regt und ge­spannt zu Ti­sche. An­ge­sichts der süßen Ju­gend, die es ihm an­ge­tan, ekel­te ihn sein al­tern­der Leib, der An­blick sei­nes grau­en Haa­res, sei­ner schar­fen Ge­sichts­zü­ge stürz­te ihn in Scham und Hoff­nungs­lo­sig­keit. Es trieb ihn, sich kör­per­lich zu er­qui­cken und wie­der­her­zu­stel­len; er be­such­te häu­fig den Coif­feur des Hau­ses.

Im Fri­sier­man­tel, unter den pfle­gen­den Hän­den des Schwät­zers im Stuh­le zu­rück­ge­lehnt, be­trach­te­te er ge­quäl­ten Bli­ckes sein Spie­gel­bild.

»Grau«, sagte er mit ver­zerr­tem Munde.

»Ein wenig«, ant­wor­te­te der Mensch. »(…) In Ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht auf seine na­tür­li­che Haar­far­be. Sie er­lau­ben mir, Ihnen die Ih­ri­ge ein­fach zu­rück­zu­ge­ben?«

»Wie das?« frag­te Aschen­bach.

Da wusch der Be­red­te das Haar des Gas­tes mit zwei­er­lei Was­ser, einem kla­ren und einem dunk­len, und es war schwarz wie in jun­gen Jah­ren. Er bog es hier­auf mit der Brenn­schee­re in wei­che Lagen, trat rück­wärts und mus­ter­te das be­han­del­te Haupt.

»Es wäre nun nur noch«, sagte er, »die Ge­sichts­haut ein wenig auf­zu­fri­schen.«

Und wie je­mand, der nicht enden, sich nicht genug tun kann, ging er mit immer neu be­leb­ter Ge­schäf­tig­keit von einer Han­tie­rung zur an­de­ren über. Aschen­bach, be­quem ru­hend, der Ab­wehr nicht fähig, hoff­nungs­voll er­regt viel­mehr von dem, was ge­schah, sah im Glase seine Brau­en sich ent­schie­de­ner und eben­mä­ßi­ger wöl­ben, den Schnitt sei­ner Augen sich ver­län­gern, ihren Glanz durch eine leich­te Un­ter­ma­lung des Lides sich heben, sah wei­ter unten, wo die Haut bräun­lich-le­dern ge­we­sen, weich auf­ge­tra­gen, ein zar­tes Kar­min er­wa­chen, seine Lip­pen, blut­arm so­eben noch, him­beer­far­ben schwel­len, die Fur­chen der Wan­gen, des Mun­des, die Run­zeln der Augen unter Crème und Ju­gend­hauch ver­schwin­den, — er­blick­te mit Herz­klop­fen einen blü­hen­den Jüng­ling. Der Kos­me­ti­ker gab sich end­lich zu­frie­den, indem er nach Art sol­cher Leute dem, den er be­dient hatte, mit krie­chen­der Höf­lich­keit dank­te. »Eine un­be­deu­ten­de Nach­hil­fe«, sagte er, indem er eine letz­te Hand an Aschen­bachs Äu­ße­res legte. »Nun kann der Herr sich un­be­denk­lich ver­lie­ben.« Der Be­rück­te ging, traum­glück­lich, ver­wirrt und furcht­sam. Seine Kra­wat­te war rot, sein breit­schat­ten­der Stroh­hut mit einem mehr­far­bi­gen Bande um­wun­den.

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  • Wie nimmt Aschen­bach in Text 1 den „Alten“ wahr?
  • Wie nimmt Aschen­bach in Text 2 sich selbst wahr?
  • In­wie­fern han­delt es sich bei Text 2 um eine „Spie­gel­sze­ne“?

1 Tho­mas Mann: Der Tod in Ve­ne­dig, (Fi­scher Ta­schen­buch Ver­lag 54), Frank­furt a.M. 1954/1998

  Max Frisch: Homo faber

 

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