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Eine Rede zur Bildnisproblematik halten

04 Erarbeitungsaufgaben

47 Eine Rede zur Bildnisproblematik halten

M1 Max Frisch
Du sollst dir kein Bildnis machen

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt - Nur die Liebe erträgt ihn so.

Warum reisen wir?
Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen ein für alle Mal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei -Es ist ohnehin schon wenig genug.

Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind - nicht, weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
,,Du bist nicht", sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: ,,wofür ich dich gehalten habe."
Und wofür hat man sich denn gehalten?
Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. [...]
Irgendeine fixe Meinung unsrer Freunde, unsrer Eltern, unsrer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirne gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muss es sich durchaus nicht im geraden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluss, darin, dass man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den andern.

Eine Lehrerin sagte einmal zu meiner Mutter, niemals in ihrem Leben werde sie stricken lernen. Meine Mutter erzählte uns jenen Ausspruch sehr oft; sie hat ihn nie vergessen, nie verziehen; sie ist eine leidenschaftliche und ungewöhnliche Strickerin geworden, und alle die Strümpfe und Mützen, die Handschuhe, die Pullover, die ich jemals bekommen habe, am Ende verdanke ich sie allein jenem ärgerlichen Orakel! ...

In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm, dass er sich wandle, oja, wir wünschen es ganzen Völkern! Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind die Letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unsres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer.

Aus: Max Frisch, Tagebuch 1946-1949, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1981, S. 31ff. [Hervorhebungen durch Verf.]

M 2 Max Frisch: "Du hast dir ein Bild von mir gemacht ...

"Du hast Dir nun einmal ein Bildnis von mir gemacht, das merke ich schon, ein fertiges und endgültiges Bildnis, und damit Schluss ... Wenn man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist trotz aller Erinnerung einfach bereit, zu staunen ... wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis, wie Du es Dir da machst." (Julika an Stiller) Max Frisch, Stiller

M 3 Bertolt Brecht: Wenn Herr K. einen Menschen liebte

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 12, S. 386 Frankfurt a.M. 1967 (werkausgabe es)

M 4 Pygmalion (vgl. auch Pygmalion-Effekt)

" Pygmalion (gr. Πυγμαλίων) ist der Name eines kyprischen Königs aus der griechischen Mythologie. Außerdem ist er der griechische Name des Königs Pumjaton von Tyros, auf den die mythische Geschichte möglicherweise zurückgeht.

(…)

Die ausführlichste antike Schilderung findet sich bei Ovid (Metamorphosen Buch 10, Vers 243 ff.):

Der Künstler Pygmalion von Zypern ist aufgrund schlechter Erfahrungen mit Propoetiden (sexuell zügellose Frauen) zum Frauenfeind geworden und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Ohne bewusst an Frauen zu denken, erschafft er eine Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht. Er behandelt das Abbild immer mehr wie einen echten Menschen und verliebt sich schließlich in seine Kunstfigur. Am Festtag der Aphrodite fleht Pygmalion die Göttin der Liebe an: Zwar traut er sich nicht zu sagen, seine Statue möge zum Menschen werden, doch bittet er darum, seine künftige Frau möge so sein wie die von ihm erschaffene Statue. Als er nach Hause zurückkehrt und die Statue wie üblich zu liebkosen beginnt, wird diese langsam lebendig. Aus der Verbindung geht ein Kind namens Paphos hervor. Im 18. Jh. erhält die zum Leben erweckte Statue den Namen Galatea."

(CC) Text "Pygmalion, Ovid"   http://de.wikipedia.org/wiki/Pygmalion

Vergleiche auch:   http://de.wikipedia.org/wiki/Pygmalion-Effekt

Aufgabe (im Tandem oder ABC-Team)

Interpretieren Sie die Texte in Bezug auf und im Anschluss an „Homo faber“.
Bereiten Sie dann als Hausaufgabe entweder

  • 51a) einen Referatsentwurf vor, der es Ihnen ermöglicht, vor dem Kurs 2 Min. zum Thema zu sprechen .

    oder formulieren Sie

  • 51b) ein schriftliches Redemanuskript für eine zweiminütige Rede vor dem Kurs.

  Interludium

 

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