Unzuverlässiges Erzählen in Agnes
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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Didaktische Hinweise zu Mat. 2.2:
- Eine Herausforderung bei der Untersuchung unzuverlässigen Erzählens liegt darin, den Lernenden bewusst zu machen, dass der Ich-Erzähler hier in erster Linie als Erzähler betrachtet und bewertet wird – und nicht ‚nur’ als handelnde Figur der Erzählung.
- Alternative mit deduktivem Vorgehen: Einsatz der Übersicht mit Merkmalen unzuverlässigen Erzählens, vgl. Handreichung des Landesinstituts für Schulentwicklung, S. 169: Merkmale in den Textstellen auffinden lassen und die Erzählerfigur von da aus bewerten.
Inhaltliche Hinweise zur dritten Teilaufgabe in Mat 2.2:
- Der Erzähler beschönigt seine Darstellung (d.h. die Binnen-Erzählung) enorm, und zwar sowohl die Gesamtsituation („wir schwiegen“ vs. „wir küßten uns“) als auch sein eigenes Verhalten (Kälte und Egoismus („ich brauche kein Kind“) vs. Fähigkeit, Gefühle zu formulieren („ich habe Angst davor, Vater zu werden“) und Unterstützung der Partnerin („wir werden es schon irgendwie schaffen“). Insgesamt ist der Erzähler der Binnen-Erzählung als unzuverlässig zu bezeichnen.
- Einerseits führt diese Beschönigung (und das Arrangements des Romans, das diesen Vergleich erst ermöglicht) vor Augen, wie verlockend eine beschönigende Darstellung für den Erzähler ist. Somit erscheint implizit auch die rückblickende Erzählung insgesamt infrage gestellt. Andererseits zeigt der Vergleich der beiden Fassungen, dass sich der Erzähler im Rückblick sehr viel kritischer mit seiner Rolle auseinander setzt und sich keineswegs immer im besten Licht darstellt. Mit anderen Worten: Verglichen mit der kursiv gesetzten Binnen-Erzählung erscheint der Ich-Erzähler des Romans recht zuverlässig.
- Die Vergleichstextstelle ergibt ein sehr differenziertes Bild des Ich-Erzählers. Auch hier verschweigt er nicht, wie egoistisch und demütigend er Agnes behandelt hat. Teilweise kritisiert er das eigene Verhalten ausdrücklich, ohne aber ein grundsätzliches Schuldbewusstsein erkennen zu lassen. Dazu passt, dass er immer wieder versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen oder sich herauszureden. Einige Passagen lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Vgl. den folgenden detaillierten Lösungsvorschlag:
Ich muß gehen. Ich stehe auf. Ich verlasse das Haus. Ich fahre mit dem Zug. Ein Mann starrt mich an. Er setzt sich neben mich. Er steht auf als ich aufstehe. Er folgt mir, als ich aussteige. Wenn ich mich umdrehe, kann ich ihn nicht sehen, so nahe ist er mir. Aber er berührt mich nicht. Er folgt mir. Er spricht nicht. Er ist immer bei mir, bei Tag und in der Nacht. Er schläft mit mir, ohne mich zu berühren. Er ist in mir, er füllt mich aus. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nur ihn. Ich erkenne meine Hände nicht mehr, meine Füße nicht. Meine Kleider sind zu klein, meine Schuhe drücken, mein Haar ist heller geworden, meine Stimme dunkler. Ich muß gehen. Ich stehe auf. Ich verlasse das Haus.
„Agnes“, S. 89-91 [1] |
„Agnes“, S. 99 [1] |
Wir schwiegen. Dann sagte Agnes: »Ich bin schwanger ... Ich kriege ein Kind«, sagte sie. »Freust du dich?« Ich stand auf und ging in die Küche, um mir ein Bier zu holen. Als ich zurückkam, saß Agnes auf meinem Schreibtisch und spielte mit einem Kugelschreiber. Ich setzte mich neben sie, ohne sie zu berühren. Sie nahm mir die Flasche aus der Hand und trank einen Schluck. »Schwangere Frauen sollten keinen Alkohol trinken«, sagte ich und lachte verkrampft. Sie boxte mich in die Schulter. »Und?« fragte sie. »Was sagst du?« »Nicht gerade, was ich mir vorgestellt habe. Warum? Hast du die Pille vergessen?« »Der Arzt sagt, es kann auch mit der Pille passieren. Ein Prozent oder so der Frauen, die die Pille nehmen ...« Ich schüttelte den Kopf und sagte nichts. Agnes begann, leise zu weinen. »Agnes wird nicht schwanger«, sagte ich. »Das war nicht... Du liebst mich nicht. Nicht wirklich.« »Warum sagst du das? Es ist nicht wahr. Ich habe nie ... nie habe ich das gesagt.« »Ich kenne dich. Ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst.« »Das ist nicht wahr.« Als müsse ich mich selbst überzeugen, sagte ich nur: »Sie ist nicht schwanger.« Agnes rannte ins Schlafzimmer. Ich hörte, wie sie sich aufs Bett warf und laut schluchzte. Ich folgte ihr und blieb in der Tür stehen. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. »Was sagst du?« »Es ist dein Kind.« »Ich will kein Kind. Ich kann kein Kind gebrauchen.« »Was soll ich tun? Was willst du denn, daß ich tue? Ich kann es nicht ändern.« Ich setzte mich aufs Bett und legte die Hand auf ihre Schulter. »Ich brauche kein Kind.« »Ich brauche auch kein Kind. Aber ich bekomme eins.« »Man kann das ändern«, sagte ich leise. Agnes sprang auf und schaute mich an mit einer Mischung aus Ekel und Wut. »Du willst, daß ich abtreibe?« »Ich liebe dich. Wir müssen reden.« »Immer sagst du, wir müssen reden. Aber du redest nie.« »Jetzt rede ich.« »Geh, geh weg. Laß mich. Du widerst mich an mit deiner Geschichte.« Ich verließ das Zimmer. Ich zog mich warm an und ging nach draußen. |
Ich schrieb. Wir küßten uns. Dann sagte Agnes: »Ich bekomme ein Kind.« »Ein Kind?« sagte ich. »Das ist nicht möglich.« »Doch«, sagte sie. »Warum? Hast du die Pille vergessen?« »Der Arzt sagt, es kann auch mit der Pille passieren. Ein Prozent der Frauen, die die Pille nehmen ...« »Es richtet sich nicht gegen dich oder das Kind. Ich will nicht, daß du denkst...«, sagte ich, »aber ich habe Angst davor, Vater zu werden. Was kann ich einem Kind schon bieten ... ich meine nicht Geld.« Wir schwiegen. Schließlich sagte Agnes: »Dinge geschehen. Du wirst es nicht schlechter machen als die anderen. Wollen wir es nicht wenigstens versuchen?« »Ja«, sagte ich, »wir werden es schon irgendwie schaffen.« |
- Vergleichen Sie die beiden Erzählungen. Untersuchen Sie, wie der Ich-Erzähler als Autor der gemeinsamen „Geschichte“ das Geschehene bearbeitet, und sammeln Sie Textbelege für seine (Un-)Zuverlässigkeit.
- Überlegen Sie, welche Rückschlüsse sich nun auf die (Un-)Zuverlässigkeit des Ich-Erzählers in der linken Spalte ziehen lassen.
- Untersuchen Sie nun auch jene Stelle, in der erzählt wird, wie Agnes und der Ich-Erzähler über Agnes’ kurze Geschichte sprechen (S. 41 („Nach dem Essen...“) – S. 43 („... wenn du nicht liest.“). Suchen Sie dabei Textstellen heraus, an denen sich der Erzähler im Nachhinein zu rechtfertigen oder herauszureden versucht, und solche, in denen er sich im Rückblick mit seinen Fehlern selbstkritisch auseinandersetzt.
Unzuverlässige Erzähler
Merkmale unzuverlässigen Erzählens:
- offensichtliche Widersprüche, in die sich der Erzähler verstrickt, und andere Unstimmigkeiten seiner Erzählung;
- Widersprüche zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers;
- Widersprüche zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Art, wie andere Figuren ihn charakterisieren;
- Widersprüche zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler einerseits und seinen Erklärungen und Interpretationen andererseits;
- verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren widersprechen dem Erzähler bzw. korrigieren ihn;
- unterschiedliche Versionen desselben Geschehens werden dargeboten, wobei diejenige des Erzählers nicht unbedingt die gültige ist;
- übertriebener Sprecherbezug: Vielzahl an Ich-zentrierten Äußerungen des Erzählers;
- übertriebener Adressatenbezug: Erzähler spricht die Leserin / den Leser häufig direkt an bzw. versucht bewusst, dessen Auffassung des Geschehens zu lenken;
- sprachliche Signale für Subjektivität und Emotionalität: rhetorische Mittel, die verraten, dass der Erzähler emotional sehr stark beteiligt ist (z. B. Ausrufe, Ellipsen, Einschübe, Wiederholungen, Regelverstöße);
- Erzähler geht auffällig oft auf seine Glaubwürdigkeit ein (z. B. um diese zu bekräftigen: „Ihr werdet es nicht glauben, aber…“);
- Erzähler gesteht seine Unglaubwürdigkeit ein (z. B. Erinnerungslücken, Parteilichkeit, Verdrängung bzw. Vergessenswunsch);
- Signale im Titel, im Untertitel, im Vorwort, in einer Fußnote usw. (sofern diese auf den Autor zurückgehen);
- *gravierender Widerspruch zwischen der Einstellung / dem Weltbild des Erzählers und dem des Lesers;
- *übertriebene Sachlichkeit;
- *unnötige Menge an Information, viel zu wenig Information oder fehlender Zusammenhang der gegebenen Informationen;
- *übertriebene Urteilsfreude; diese ist z. B. erkennbar an wertenden Adjektiven oder überhaupt einer Häufung von Adjektiven, die Haltungen zum Ausdruck bringen).
(nach: Nünning, Ansgar F.: Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches. In: Phelan, James; Rabinowitz, Peter J. (Hrsg.): A Companion to Narrative, (Blackwell) Oxford 2005, S. 89-107, ergänzt um Merkmale (mit * markiert) aus ders.: Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Ders. (Hrsg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, (wvt) Trier 1998, S. 3-39).
Unzuverlässiges Erzählen in Agnes:
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[1] Peter Stamm: Agnes . S. Fischer Verlag 2009, 5. Auflage, Fischer (Tb) © 1998 by Peter Stamm