Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Vergleich zum Thema Tod


Interpretationsaufsatz mit werkübergreifender Teilaufgabe („Werke im Kontext)

Wir hatten das Licht nicht gelöscht, und es brannte noch immer, als wir irgendwann spät in der Nacht einschliefen. Ich erwachte, als es draußen schon langsam hell wurde. Das Licht war jetzt gelöscht, und vor dem milchigen Viereck des Fensters sah ich die Silhouette von Agnes' nacktem Körper. Ich stand auf und trat neben sie. Sie hatte das seitliche kleine Kippfenster geöffnet und ihre Hand durch den engen Spalt ge­zwängt. Gemeinsam schauten wir auf die Hand, die sich draußen wie abgetrennt bewegte.

»Ich konnte das Fenster nicht öffnen.«
»Die Wohnung ist klimatisiert ...
Wir schwiegen beide. Agnes machte mit der Hand langsame, kreisende Bewegungen.
»Ich könnte fast dein Vater sein, fast«, sagte ich. »Aber du bist es nicht.«
Agnes zog die Hand zurück und drehte sich zu mir. »Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«
»Nein«, sagte ich, »alles wäre irgendwie ... sinnlos. Wenn es danach weiterginge.«

»Als ich ein Kind war, nahmen meine Eltern mich jeden Sonntag mit in die Kirche«, sagte Agnes, »aber ich habe von Anfang an nie daran glauben können. Obwohl ich es mir manchmal gewünscht habe. Wir hatten eine Sonntagsschullehrerin, eine kleine, häß­liche Frau, die irgendeine Behinderung hatte. Einen Klumpfuß, glaube ich. Einmal erzählte sie uns, wie sie als Kind ihren Schlüssel verloren hatte. Ihre Eltern waren bei der Arbeit, und sie konnte nicht ins Haus. Da habe sie gebetet, und Gott habe ihr gezeigt, wo der Schlüssel gewesen sei. Sie habe ihn auf dem Nachhau­seweg von der Schule verloren. Ich habe dann auch manchmal gebetet, aber immer angefangen mit Lie­ber Gott, wenn es dich gibt<. Viel öfter habe ich mir selbst Aufgaben gestellt. Wenn ich es schaffe, eine Viertelstunde auf einem Bein zu stehen oder mit geschlossenen Augen hundert Schritte weit zu gehen, dann geschieht, was ich will. Und manchmal zünde ich noch heute eine Kerze an, wenn ich eine Kirche besuche. Für die Verstorbenen. Obwohl ich nicht daran glaube. Ich habe als Kind immer gedacht, warum hat die Frau einen Klumpfuß, wenn Gott sie liebt. Das war natürlich ungerecht.«

»Vielleicht gibt es eine Art ewiges Leben«, sagte ich und schloß das Klappfenster. Die leisen Nachtgeräu­sche von draußen verstummten, und die Enge des Raums um uns wurde spürbar. »In irgendeiner Form leben wir alle nach unserem Tod weiter. In der Erin­nerung anderer Menschen, von unseren Kindern. Und in dem, was wir geschaffen haben.«

»Schreibst du deshalb Bücher? Weil du keine Kinder hast? «
»Ich will nicht ewig leben. Im Gegenteil. Ich möchte keine Spuren hinterlassen.«
»Doch«, sagte Agnes.
»Komm«, sagte ich, »gehen wir zurück ins Bett. Es ist noch zu früh.«

Peter Stamm: Agnes , Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2009, S. 26-28

Aufgabenstellung

  1. Interpretieren Sie die Textstelle im Kontext der Romanhandlung.
  1. Untersuchen Sie in einer vergleichenden Betrachtung, inwieweit das Thema Tod in Peter Stamms Roman Agnes und in Max Frischs Roman Homo faber eine Rolle spielt und wie es jeweils leitmotivisch verknüpft ist.  


Vergleich zum Thema Tod: Herunterladen [doc] [37 KB]