Lesart des Romans
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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
11 Eine Lesart des Romans im Kontext der Pflichtlektüren
Unter dem Eindruck einer gewaltigen Deutungsliteratur wird hier im Kontext der anderen Pflichtthemen das Verständnis des Romans fokussiert auf den Erwerb zentraler Kompetenzen durch die Schülerinnen und Schüler. Es gilt das exemplarische Prinzip unter der Maxime „Nicht immer an das Ganze denken“. Die thematische Vielschichtigkeit des Romans ist überwältigend und böte genügend Gegenstände für eine halbjährige Beschäftigung. Im Rahmen eines Kompetenzverteilungsplanes müssen in 12-18 Stunden Schwerpunkte gesetzt werden. Für einen kumulativen Kompetenzaufbau werden Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, die sie bei der Erarbeitung von Kurzprosa und von Stamms „Agnes“ erworben haben, vorausgesetzt, wachgehalten, ausdifferenziert. Vor allem die Kompetenzen der Dialoganalyse können die Schülerinnen und Schüler hier erneut anwenden. Die Fähigkeit, in der Erzählstrategie den unglaubwürdigen Ich-Erzähler zu identifizieren und quasi als Co-Autor eine eigene Wahrheitsversion zu produzieren, wird hier ausdifferenziert. In den zu „Homo faber“ vorgestellten Aufgaben werden folgende Schwerpunktstandards in den Mittelpunkt der Romanbehandlung gestellt:
„Die Schülerinnen und Schüler können
- sich mit den in einem Text dargestellten Menschen- und Weltbild auseinandersetzen. Sie berücksichtigen auch geistes-, sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge ;
- Norm- und Wertvorstellungen reflektieren und sich ein begründetes Urteil bilden.
Außerdem erweitern sie ihre Leseerfahrung durch die Beschäftigung mit mindestens zwei Werken der Gegenwartsliteratur.“ (BP, S. 88f)
Die hier erworbenen Schwerpunktkompetenzen können bei der Behandlung von „Dantons Tod“ ausdifferenziert werden. Es kommt darauf an, diese Kompetenzen an geeignete Inhalte (Themen, Textpassagen) zu binden, sodass einerseits ein kumulativer Kompetenzerwerb stattfindet, die Schülerinnen und Schüler andererseits sich ein inhaltlich basiertes Romanverständnis erarbeiten, das genügend Offenheit lässt, um zu einer je eigenen individuellen Lesart zu kommen.
In diesem Sinne sehen wir Walter Faber als einen Prototyp des/eines modernen Menschen, dessen Lebensentwurf, dessen Selbstbild und dessen Bilder anderer Figuren eingebettet sind in extreme Gegensätze:
faber und homo, Technik und Natur, Mann und Frau, Naturwissenschaft und Kunst, Rationalität und Mythos, Berechnung und Gefühl, Wahrscheinlichkeit und Wahrheit, Zufall und Schicksal, vita activa und vita contemplativa, Registrieren und Erleben, Egozentrik und Zuwendung, Beziehungslosigkeit und Bindung, Amerika und Europa, neue Welt und alte Welt, Kybernetik und Mythos, handeln und sprechen/schreiben, filmen/fotografieren und schauen, Professor O. und Armin, Omega und Alpha, üblich und plötzlich, reisen und bleiben, Blindheit und sehen, Versagen und Gelingen, Mann und Frau, Sex und Liebe, Krankheit und Leben, Tod und Geburt, Zukunft und Vergangenheit, Endlichkeit und Ewigkeit … – Mit Marcels
„Tu sais que la mort est femme! (…) et que la terre est femme!“
(S. 69) ist die Trias formuliert, die sich Fabers selbstverordnetem steril-hygienischen Lebenskonzept entgegenstellt und an der er schließlich scheitert.
Die durchgängige Dichotomie der Daseinswahrnehmung und Lebensbewältigung löst sich immer wieder in dialektische Durchdringung der beiden extremen Pole auf. Prominentestes Beispiel dafür ist die Kuba-Episode. Zu Beginn der UE fällt es den Schülerinnen und Schülern sicherlich leichter, zunächst einmal die antinomische Struktur des Romans zu entdecken und auf dieser Basis zu immer differenzierteren Urteilen über die Fabel und den Protagonisten zu gelangen. Besondere Einsicht gewinnen die Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Erzählstrategie des unglaubwürdigen Ich-Erzählers analysieren. Das Romangeschehen ist vom Autor so in den Motiven verflochten und verschlungen dargestellt, dass ein exemplarisches Erfassen sicherlich auch das Gesamtverständnis befördern kann, ohne jede einzelne Valenz auszuloten.
Besondere Beachtung verdient die Struktur und Erzählstrategie dieses modernen Romans. Aspekte, welche die Schülerinnen und Schüler an Stamms „Agnes“ bereits erarbeitet haben, können hier wieder entdeckt werden, so den unzuverlässige Erzähler oder die vollkommene Aufhebung einer chronologischen Zeitstruktur. Der scheinbar objektive „Bericht“ des Ich-Erzählers ist extrem subjektiv. An keiner Stelle wird ein Adressat dieses Berichtes genannt. Beide „Stationen“ sind monologische Aufzeichnungen des durch Krankheit „lahmgelegten“ Protagonisten im Hotel in Caracas und im Krankenhaus in Athen. Das Schreiben und Reflektieren Walter Fabers stellt einen Gegensatz dar zum Selbstbild des waltenden und verwaltenden Walter Faber, des handelnden Ingenieurs. Im Plot des Romans „handelt“ der Techniker in Wahrheit kein einziges Mal in professioneller Weise! Dass er überhaupt schreibt, zeigt ihn bereits auf dem Weg vom „faber“ zum „homo“. Ob Faber sich wandelt, ist allerdings in der Forschung umstritten. Für Max Frisch ist seine Sprache der „eigentliche Tatort“, in welcher der Protagonist sich selbst richte.
Exkurs zu den sprechenden Namen: Ähnlich wie die zahlreichen mythologischen Anspielungen kann das Spiel mit sprechenden Namen als ein auf den ersten Blick unsichtbares architektonisches Gerüst gesehen werden, um das der Schriftsteller und Architekt Max Frisch seinen Roman baut:
Walter waltet
Faber ist der Techniker
Landsberg – die erdverbundene Demeter
Henke hat sich aufgehängt
Die Schreibmaschine eine Hermes-Baby, das Flugzeug eine Super-Constellation. Faber raucht Romeo y Julietta. Der Alfa Romeo hat eine Schlange im Emblem.
Alpha und Omega markieren Beginn (Geburt) und Ende (Tod): Der blinde Armin führt Hanna durch die Welt. Professor O., dessen Name nur aus einem Buchstaben besteht (Omega) ist eine wahre Charonsgestalt. Das Café Odéon soll abgerissen werden. Die Uhr, die Faber dem LKW-Fahrer gibt, ist eine Omega.
Angesichts der Adressatenlosigkeit des Berichtes müssen die Aufzeichnungen als Selbstrechtfertigungen – vor allem nach der Begegnung mit Hanna – gesehen werden. In ihnen treten die Widersprüche dessen zutage, der am Leben vorbeilebt und seine Schuld verdrängt. Die Schülerinnen und Schüler werden in die Lage versetzt, dem unzuverlässigen Erzähler auf die Schliche zu kommen und die Verdrängungsmechanismen des Erzählers aufzuspüren. Sie erarbeiten Fabers Menschen- und Weltbild und erkennen dabei, dass dieser „Mensch ohne Du“ sich nicht nur von anderen Menschen stereotype Bilder macht, sondern in seiner Rollenprosa sich selbst in einem fixen Selbstbildnis des nur rationalen Technikers gefangen hält.
Als habe er von unserer Tagung gewusst, hat der Papst in seiner Rede im Bundestag indirekt das Menschenbild Walter Fabers kommentiert:
Papst am 22.9.11: Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbst gemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.
Der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit. 1
Der Leser kann die Lebenslügen und Verdrängungsmechanismen entdecken und in Abgrenzung zum subjektiven Bericht sich sein eigenes Bild von der Wahrheit machen. Als Katalysator für dieses Entdecken bietet sich der Lebensentwurf Hannas an. Diese Figur ist in der Forschung umstritten. Ihr Lebenskonzept ist zwar konträr zu dem Fabers, aber in Bezug auf Elisabeth ebenso autoritär-vereinnahmend wie das Fabers: Hanna bezeichnet sie als „meine Tochter“, behält ihr – weniger feministisch als antimännlich – den Vater ebenso vor wie ihren ehrlich Namen.
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„Elsbeth“ ist sie für Hanna, wie sie andererseits „Sabeth“ für Faber ist.
Für den beziehungsunfähigen Faber sind dies alles keine Beziehungen, sondern „Über-Konstellationen“, wie schon sein Transportmittel heißt (Super-Constellation). Über Objekt-Beziehungen zu Menschen kommt Faber – auch in der Kuba-Episode – nicht hinaus. Auch Elisabeth Piper bekommt selten einen eigenen Stellenwert. In seiner Phantasie verschmilzt „das Mädchen“ mit Hanna. Sie ist sein „Hermes-Baby“. Aus Autorensicht kann man die Figur (ähnlich wie Tadzio im Thomas Manns „Tod in Venedig“ für Aschenbach) als „Psychagogin“ Walter Fabers sehen, die ihn lehrt, abseits von fixen Bildnissen, das Lebendige zu erfahren.
Die in der Beschäftigung mit dem Roman erworbenen Fähigkeiten werden ausgeweitet durch exemplarische Filmanalyse. Volker Schlöndorffs Literaturverfilmung bietet die Chance, die Schülerinnen und Schüler das „Sehen“ lernen zu lassen, die Dialoganalyse als filmische Szenenanalyse zu betreiben. Interessant wird dabei vor allem, mit welchen filmischen Mitteln der Regisseur die mythologischen Motive gestaltet. Filmanalyse bedarf spezieller Kompetenzen. Deswegen wird sie nicht jetzt im thematischen Kontext, sondern als eigener Baustein in einem Kompetenzzusammenhang vorgestellt.
1 (rv 22.09.2011) http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=522684 letzter Aufruf 22.09. 2011
2 vgl. Rhonda L. Blair: .Homo faber, .Homo ludens und das Demeter-Kore-Motiv. In: Walter Schmitz (Hrsg.): Frischs Homo faber. (stm 2028) Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1983, S. 157,159 .
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