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2. Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche und neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche Grund­be­din­gun­gen

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

 

Für mo­ra­lisch-ethi­sches Ler­nen und das auf­bau­en­de Ler­nen im mo­ra­lisch-ethi­schen Kon­text im Be­son­de­ren sind (1) ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche und (2) neu­ro­na­le Grund­bedingungen zu be­rück­sich­ti­gen


2.1 Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Grund­be­din­gun­gen


In An­leh­nung an La­wrence Kohl­berg und an seine Über­le­gun­gen zur Ent­wick­lung des mo­ra­li­schen Ur­teils kann zur Ori­en­tie­rung fest­ge­hal­ten wer­den: Kohl­berg rich­tet den Blick auf die Ent­wick­lung von Be­grün­dun­gen nor­ma­ti­ver Ur­tei­le und auf die Ori­en­tie­run­gen, die diese Ur­tei­le lei­ten. Die Be­grün­dung der Nor­men un­ter­sucht er auf der Basis mo­ra­li­scher Di­lem­ma­ta (Kon­flikt zwi­schen zwei mo­ra­li­schen Nor­men), z.B. dem hin­läng­lich be­kann­ten „Heinz-Di­lem­ma.“ 1 Aus dem Mus­ter der von Kin­dern und Ju­gend­li­chen ab­ge­ge­be­nen Ar­gu­men­ta­tio­nen kon­stru­iert Kohl­berg drei Ni­veaus mit je zwei Stu­fen der Ent­wick­lung:

vor­mo­ra­li­sches Ni­veau (1)

Stufe I Ori­en­tie­rung an Be­stra­fung und Ge­hor­sam (sehr frühe Kind­heit)
Stufe II in­stru­men­tell, naiv-he­do­nis­ti­sche Ori­en­tie­rung an ei­ge­nen Be­dürf­nis­sen (frühe bis mitt­le­re Kind­heit)

kon­ven­tio­nel­les Ni­veau (2)

Stufe III Ten­denz zur Er­hal­tung wich­ti­ger So­zi­al­be­zie­hun­gen, be­schränkt auf per­sön­lich be­kann­te Per­so­nen wie El­tern und Lehr­per­so­nen (mitt­le­re Kind­heit bis Ju­gend­al­ter).
Stufe IV er­wei­tert die Ori­en­tie­rung auf über­grei­fen­de Sys­te­me wie Staat und Religions­gemeinschaft. Die Er­fül­lung eines Ord­nungs- und Rechts­sys­tems, das die Rech­te, Pflich­ten und An­sprü­che aller re­gelt, wird zum obers­ten Ge­setz (mitt­le­res oder spä­tes Ju­gend­al­ter).

post­kon­ven­tio­nel­les Ni­veau (3)

Das Ord­nungs- und Rechts­sys­tem wird nicht mehr frag­los als rich­tig und ver­tei­di­gungs­wert an­ge­se­hen, viel­mehr be­steht das Be­mü­hen, Prin­zi­pi­en und Werte zu de­fi­nie­ren, die unab­hängig sind von der Au­to­ri­tät ein­zel­ner Grup­pen oder Per­so­nen und der ei­ge­nen Identi­fizierung mit ihnen. Der Ego­is­mus wird auf die­sem Ni­veau grund­sätz­lich über­wun­den.
Stufe V Ver­ständ­nis des Sys­tems als Ge­sell­schafts­ver­trag, der prin­zi­pi­ell zwi­schen den Be­tei­lig­ten ver­ein­bar ist und daher ver­än­dert wer­den kann. Uti­li­ta­ris­ti­sche Über­le­gun­gen sind häu­fig: Ma­xi­mie­rung des Ge­winns für viele („das größ­te Glück der größ­ten Zahl“).
Stufe VI Suche und Ori­en­tie­rung nach all­ge­mein­gül­ti­gen Prin­zi­pi­en, die zu be­fol­gen Pflicht ist. Men­schen­rech­te wer­den häu­fig als un­ver­äu­ßer­lich an­ge­se­hen. 2


2.2 Neu­ro­na­le Grund­be­din­gun­gen


Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Un­ter­su­chun­gen im Ge­fol­ge von Pia­get und Kohl­berg haben deut­lich ge­macht, dass ein ‚fer­ti­ges mo­ra­li­sches Be­wusst­sein’ bei Men­schen nicht ein­fach ‚da’ oder an­ge­bo­ren ist, son­dern sich erst all­mäh­lich in der Kin­der- und Ju­gend­pha­se ent­wi­ckelt. Ak­tu­el­le neu­ro­bio­lo­gi­sche Er­geb­nis­se mit­tels der Com­pu­ter­to­mo­gra­phie (MRT) un­ter­stüt­zen diese Daten: Sie zei­gen, dass ohne einen aus­ge­bil­de­ten or­bi­to-fron­ta­len Kor­tex (das ist ein Be­reich im Groß­hirn in der Mitte hin­ter der Stirn eines Men­schen) eine reife und re­flek­tier­te ethi­sche Ur­teils­bil­dung nicht mög­lich ist. 3

Bei Schü­le­rin­nen und Schü­lern der Klas­se 9 und meist auch Klas­se 10 ist diese Ent­wick­lung noch nicht ab­ge­schlos­sen. Auch wenn Ein­zel­fäl­le davon ab­wei­chen, einen voll aus­ge­bil­de­ten or­bi­to-fron­ta­len Kor­tex fin­det man in der Regel bei Ju­gend­li­chen erst ab ca. dem 18. Lebens­jahr vor, also ge­wöhn­lich erst nach Klas­se 10. Dem kor­re­spon­diert, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler der Klas­sen­stu­fe 9/10 zu­meist auch eher gemäß der Ent­wick­lungs­stu­fe 4 der sechs von Kohl­berg an­ge­setz­ten Stu­fen der mo­ra­li­schen Ent­wick­lung ar­gu­men­tie­ren. Das heißt, sie be­grün­den mo­ra­li­sche Be­ur­tei­lun­gen häu­fig damit, dass sie dar­auf ver­wei­sen, so sei das nun ein­mal in ihrer Ge­sell­schaft, man dürfe z.B. nicht steh­len oder müsse Men­schen hel­fen, das sei eben ver­bo­ten oder stel­le an­de­ren­falls eine un­ter­las­se­ne Hil­fe­leis­tung dar. Mit an­de­ren Wor­ten:

  • SuS in Klas­se 9/10 ver­wei­sen auf be­ste­hen­de Kon­ven­tio­nen, gel­ten­de Ge­set­ze und ihr Ge­wis­sen (das wie­der­um le­dig­lich die In­ter­na­li­sie­rung der be­ste­hen­den Konven­ti­onen und Ge­set­ze dar­stellt).
  • SuS in Klas­se 9/10 grei­fen oft auf die Gol­de­ne Regel zu­rück (was eben­falls der Kohl­berg-Stufe 4 ent­spricht) und ar­gu­men­tie­ren: Man müsse hilfs­be­dürf­ti­gen Men­schen hel­fen, weil man auch wolle, dass einem selbst in der Not ge­hol­fen werde.

Erst in einer spä­te­ren Ent­wick­lungs­stu­fe sind Ju­gend­li­che auch ko­gni­tiv in der Lage, sich zu fra­gen, warum be­stimm­te Hand­lun­gen denn ver­bo­ten oder ge­bo­ten seien. Mo­ra­li­sche Hand­lungs­prin­zi­pi­en wer­den zu­neh­mend durch ethi­sche Nor­men oder mit Hilfe ethi­scher Kri­te­ri­en (gemäß einer ethi­schen Theo­rie) be­grün­det und eine nor­men­kri­ti­sche Urteils­bildung fin­det zu­neh­mend fun­dier­ter statt. 4

In der Fach­di­dak­tik Ethik wurde in den letz­ten Jah­ren häu­fig die For­de­rung auf­ge­stellt, mit den Schü­le­rin­nen und Schü­lern mo­ra­li­sche Di­lem­ma-Si­tua­tio­nen zu dis­ku­tie­ren. 5 Die Aus­weg­lo­sig­keit werde ihnen zei­gen, dass ein­fa­che Lö­sun­gen in der Moral nicht immer zu haben seien und man des­halb ethi­sche Be­grün­dungs­kri­te­ri­en − wie z.B. das Prin­zip der Nütz­lich­keit im Uti­li­ta­ris­mus oder der Ka­te­go­ri­sche Im­pe­ra­tiv in der de­on­to­lo­gi­schen Ethik − be­nö­ti­ge. Damit er­mög­li­che man den Schü­le­rin­nen und Schü­lern, in den Ent­wick­lungs­stu­fen höher zu stei­gen.

Hier ist kri­tisch an­zu­mer­ken, dass es für Di­lem­ma-Si­tua­tio­nen, wenn es denn wirk­li­che Di­lem­ma­ta sind, de­fi­ni­ti­ons­ge­mäß keine Lö­sung gibt. Wenn das der pa­ra­dig­ma­ti­sche Fall ist, könn­te bei den Schü­le­rin­nen und Schü­lern der Ein­druck ent­ste­hen, ethi­sche Über­le­gun­gen seien letzt­lich nutz­los. Und das ist für Schü­le­rin­nen und Schü­lern ins­be­son­de­re in der Se­kun­dar­stu­fe I er­fah­rungs­ge­mäß de­mo­ti­vie­rend. Mo­ti­vie­ren­der ist es hin­ge­gen, die sie mit kon­stru­ier­ten, über­schaubaren Bei­spie­len zu kon­fron­tie­ren, bei denen alle Schü­le­rin­nen und Schü­lern ihre mo­ra­li­sche In­tui­ti­on ein­brin­gen kön­nen, um dann zu sehen, dass z.B. der Uti­li­ta­ris­mus genau diese In­tui­ti­on als eine ethi­sche Theo­rie zu for­mu­lie­ren ver­sucht.

 

2.3 Auf­bau­mo­dell

2.4 Fazit

Pla­nung des auf­bau­en­den Lern­pro­zes­ses


Auf­bau­en­des Ler­nen in der Se­kun­dar­stu­fe I: Ethi­sche Kom­pe­tenz
Mo­ra­li­sches und ethi­sches Re­flek­tie­ren: Her­un­ter­la­den [pdf] [441 KB]



1   Heinz’ Frau ist ster­bens­krank. Der Apo­the­ker vor Ort hat ein wirk­sa­mes Me­di­ka­ment ent­wi­ckelt, das er aber zu einem so hohen Preis ver­kauft, dass Heinz es sich nicht leis­ten kann. Nach­dem alle Be­mü­hun­gen der Geld­be­schaffung schei­tern, bricht Heinz in der Apo­the­ke ein und ent­wen­det die Arz­nei.
2   La­wrence Kohl­berg, Die Psy­cho­lo­gie der Mo­ra­l­ent­wick­lung, Frank­furt/Main, Suhr­kamp 1996.
3   An­to­nio Da­ma­sio, Des­car­tes’ Irr­tum. Füh­len, Den­ken und das mensch­li­che Ge­hirn, Ber­lin 2004 / Man­fred Spit­zer, Ler­nen, Ge­hirn­for­schung und die Schu­le des Le­bens, Ber­lin 2003.
4   In die­sem Zu­sam­men­hang mag der Hin­weis in­ter­es­sie­ren, dass im Bil­dungs­plan des Fa­ches Ethik erst in der Se­kun­dar­stu­fe II die theo­re­ti­sche Durch­drin­gung der phi­lo­so­phi­schen Ethik vor­ge­se­hen ist.
5   Georg Lind, Die Kon­stan­zer Me­tho­de der Di­lem­ma-Dis­kus­si­on, http://​www.​uni-​kon­stanz.​de/​ag-​oral/​pdf/​Lind- 2004_­un­ters­tuet­zun­g_un­d_Her­aus­for­de­rung-Kon­stan­zer_­Me­tho­de.pdf
6   Eine Ein­füh­rung in die phi­lo­so­phi­sche Ethik auf der Grund­la­ge kon­stru­ier­ter, al­ters­ge­rech­ter Fall­bei­spie­le lie­fert: Tuija Bin­der, Ein­füh­rung in die phi­lo­so­phi­sche Ethik, Ar­beits­hil­fen für den Re­li­gi­ons­un­ter­richt ab Klas­se 9/10, Van­den­hoeck & Ru­precht 2011, Down­load als E-Book.