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4.2 Erzählen im Religionsunterricht der Klasse 5/6 als Beitrag zum moralischen Lernen

 

Das Thema „Erzählen“ ist mit der Einführung des Bildungsplans 2004 bei den Kolleg/innen der Fächer Deutsch und Religion in den Blickpunkt geraten. Denn im Standardzeitraum 5/6 des Faches Deutsch heißt es:
Die Schülerinnen und Schüler

  1. können anschaulich und lebendig erzählen, sich dabei auf ihre Zuhörer einstellen und auch auf nichtverbale Ausdrucksmittel achten" [und sie können ferner]
  2. bewusst den Aufbau ihrer Erzählungen gestalten.

Im Standardzeitraum 5/6 des Faches Evangelische Religionslehre heißt es:


Die Schülerinnen und Schüler

  1. können drei Gleichnisse Jesu nacherzählen [...].
  2. können Gleichnisse als Erzählungen deuten, die auf ein verändertes Verhalten in der Gesellschaft zielen.
  3. können ein Gleichnis aus Lk 15 (Jesu Zuwendung zum Verlorenen), ein Gleichnis aus Mk 4 (vom Kommen des Reiches Gottes) und ein weiteres Gleichnis nacherzählen, in den historischen Kontext einordnen und der Intention nach verstehen.


Das heißt, nicht nur die Lehrer/innen, sondern auch die Schüler/innen sollen nacherzählen bzw. erzählen können . Gerade für den Bereich Deutsch gibt es hierzu eine Reihe neuer Veröffentlichungen, bei denen vor allem die Reflexion der sprachlichen Form (speziell der Gattung Märchen in der 5. Klasse) und die Erzähltechnik im Mittelpunkt stehen, doch geschieht dieses erstaunlicherweise weitgehend losgelöst von einem Inhalt. Erzählen wird so fast ausschließlich als Methode eingeübt.

Hier geht das Fach Religion weiter und stellt das Erzählen in den Kontext von drei Gleichnissen, in denen im christlichen Kulturraum auch sozial wichtige Werte thematisiert und veranschaulicht werden, wie z.B. Verzeihen, Mitleid, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft ohne Ansehen der Person, Toleranz gegenüber Fremden, sich dem Kleinen zuwenden, etc.


4.2.1 Erzählen lernen

Beim Erzählen von Gleichnissen werden die SuS hinein genommen in die jüdisch-christliche Tradition des Erzählens. Die christliche Religion und damit auch die europäische Kultur gehen wesentlich auf Erzählungen zurück, in denen Menschen ihre Erfahrungen mit Gott, den Mitmenschen und der Welt mitteilen. Nach Manfred Hilkert ist „das Erzählen biblischer Geschichten eine sehr alte und erfolgreiche, also bewährte Methode, [die] geeignet ist, Menschen ganzheitlich anzusprechen und um Denkprozesse und nachhaltige Verhaltens­änderungen auszulösen.“ Hilkert führt in seiner „Erzählwerkstatt“ in das Erzählen als einen „kreativen Vorgang“ ein, in dem die Erzählenden im Prozess der Bearbeitung einer biblischen Geschichte zu einer eigenen Erzählung gelangen. „Die erzählte Geschichte lässt bei den Mit­schülern neben inneren Bildern auch Fragen entstehen“, und „das aktive Zuhören löst Nach-Denk-Prozesse aus“; beides bildet eine ideale Basis für „das theologische Gespräch mit Kindern.“ 1

Hilkerts Erzählwerkstatt bietet für den RU nachvollziehbare Tipps zum Bereich der Stimmbildung und des sogenannten POZEK-Schlüssels, die mit SuS im Standard­zeitraum 5/6 zum Thema Gleichnisse leicht angewendet werden können. Das Erzählen wird eingeübt und mündet in gegenseitiges Erzählen.

Darüber hinaus sind Methoden sinnvoll, die den SuS die Möglichkeit eröffnen, sich in die Situationen und die Personen des jeweiligen Gleichnisses einzufühlen: Bildbetrachtung mit dem Erstellen von Sprech- oder Denkblasen, Rollenspiele, innere Monologe formulieren, dem Gleichnis ein eigenes Ende geben (kreatives Schreiben), Bibliolog. Die SuS erzählen Beispiele aus dem eigenen Leben erzählen (Wo ist es mir ähnlich ergangen?) oder entwickeln eigene fiktive Mitleids- und Barmherzigkeitsgeschichten.


4.2.2 Erleben und Durchleben moralisch relevanter Situationen durch Erzählen aus neurobiologischer Sicht

Eine weitere Begründung für das Erzählen-Können von Gleichnissen liefert die Neuro­biologie. Antonio Damasio und Manfred Spitzer liefern eine neurobiologische Begründung dafür, warum es für SuS der Klassen 5/6 wichtig ist, von sozialen Werten nicht nur in Form von Erzählungen (die die Lehrkraft erzählt) zu hören, sondern inwiefern sie sich diese Werte durch das eigene Erzählen auch aneignen können. 2

Anhand eines in der Medizingeschichte hinlänglich bekannten authentischen Falls zeigt die Neurobiologie zunächst einmal, inwiefern man als Hirnforscher weiß, auf welchen Bereich des Gehirns man sich konzentrieren muss, wenn man sich für die „Speicherung“ von sozial wichtigen Werten konzentriert: Es handelt sich um den orbito-frontalen Kortex , einen Gehirnbereich hinter der Stirn.

Phineas Gage , ein 25-jähriger liebenswerter, allseits beliebter und pflichtbewusster Mann, verlor am 13. September 1848 durch einen Unfall bei Sprengarbeiten einen Teil seines Frontalhirns. Er überlebte den Unfall, bei dem eine Eisenstange durch eine vorzeitige Deto­na­tion von unten durch seine linke Wange den vorderen Teil des linken Gehirns zerstörte und den Schädel durch ein Loch wieder verlies. Außer eines blinden linken Auges, einer teilweisen Lähmung der linken Gesichtshälfte und sichtbaren Narben waren nach seiner Gesundung zunächst keine weiteren körperlichen Symptome festzustellen. Doch war seine Persönlichkeit nach dem Unfall massiv verändert: War er zuvor bescheiden, liebenswürdig, zuverlässig und aufrichtig gewesen, so war er nach dem Unfall reizbar, unzuverlässig und orientierungslos. Bis zu seinem Tod im Alter von 38 Jahren schlug sich Gage als Stall- und Landarbeiter in immer neuen Anstellungen durch, verkrachte sich ständig mit seinen Mitmenschen, trank und führte ein unstetes Leben.

Wie man heute rekonstruieren kann, wurden bei Gage durch den Eisenstab Bereiche des Frontalhirns zerstört, die für die innere Repräsentation von Bewertungen beim Menschen zuständig sind. Im orbito-frontalen Kortex sind nicht nur Gut und Schlecht repräsentiert (im Sinne von: es ist angenehm, Schokolade, und unangenehm, unreifes Obst zu essen), sondern auch Gut und Böse im moralischen Sinne. Dort sind auch die Repräsentationen der moralischen Regeln – wie die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ – gespeichert, und zwar je abstrakter und komplexer diese Repräsentationen sind, desto weiter vorn sind sie im orbito-frontalen Kortex gespeichert. Das heißt, es sind dort auch Repräsentationen ge­speichert, die weiter entfernt oder abstrakter sind als eigene konkrete Erfahrungen, einzelne anschauliche Geschichten oder Beispiele.

Sind diese hochstufigen Repräsentationen, also die abstrakten moralischen Regeln, im Gehirn aktiv, so beeinflussen sie bei der entsprechenden Person sowohl den Input (das ist: was wir wahrnehmen) als auch den Output (das ist: wie wir uns tatsächlich verhalten).

Die ethische Reflexion moralischer Werte, insbesondere abstrakter Prinzipien wie Goldene Regel oder Kategorischer Imperativ, sind erst im Kursstufenalter möglich. Denn erst dann sind die SuS aufgrund ihrer neurobiologischen Entwicklung dazu in der Lage. Dies weiß man auf der Grundlage der Beobachtung der Entwicklung und Reifung des orbito-frontalen Kortex. „Werte sind in neurobiologischer Sicht das Resultat sehr vieler einzelner [immer wieder neu erfahrender und sich bestätigender] Bewertungen, deren Statistik vom orbito-frontalen Kortex repräsentiert ist und über die vielleicht zusätzlich noch sprachlich diskursiv nachgedacht wurde. Dieses Nachdenken ist erst dann möglich, wenn genug „Material” in Form von Bewertungen verarbeitet wurde und schon gespeichert ist.“ 3

Ein solches Erfahren von Bewertungen und Verarbeiten kann zum Beispiel im RU durch das oben beschriebene eigene Erzählen erfolgen. Denn Spitzer betont ausdrücklich, dass in der entsprechenden Altersstufe eine abstrakte Diskussion etwa der 10 Gebote oder der Goldenen Regel auch völlig unangebracht sei.

Diese These macht Spitzer mit Hilfe einer Analogie plausibel: Es sei sinnlos, im Kindergarten oder in der Grundschule über allgemeine gramma­tische Regeln zu reden, weil Kinder in diesem Alter erst noch dabei seien, ihre Muttersprache auszubilden. Erst wenn diese Prozesse im Prinzip abgeschlossen seien, könnten die Kinder angesichts ihrer eigenen Sprach­kompetenz die entsprechenden allgemeinen grammatischen Regeln auf die Sprachpraxis be­ziehen. Denn erst wenn man die grammatischen Regeln in der eigenen Sprachpraxis beherrsche, könne man auch über sie theoretisch reflektieren.

Entsprechendes gilt nun aus neurobiologischer Sicht auch für moralische, soziale und religiöse Werte oder Regeln: In der 7. Klasse über Ethik anhand von abstrakten Prinzipien wie der Goldenen Regel oder dem Kategorischen Imperativ zu reden, sei laut Spitzer ähnlich unangebracht wie eine Diskussion über Grammatik im Kindergarten. Dies liegt daran, dass aufgrund der Gehirnreifung ein ausge­bildetes, intern repräsentiertes Wertesystem, über dessen Regeln man sich im Unterricht verständigen könnte, im Unter- und Mittelstufenalter (Klasse bis etwa Klasse 9) noch gar nicht vorliegt. Es kann auch noch gar nicht bestehen, denn es liegen den Kindern noch nicht genügend Bewertungserfahrungen vor. Und dies hat wiederum seinen Grund darin, dass der hierfür zuständige Kortex noch am Ausreifen ist. Eine große Breite von Erfahrungen in der entsprechenden Lebensphase kann jedoch den benötigten Raum für Bewertungs­repräsen­tationen im orbito-frontalen Kortex bewirken. 4

Das eigene Erzählen von biblischen Geschichten und das damit einhergehende Durch­leben einer Bandbreite von entsprechenden Situationen trägt dazu bei, solche Bewertungs­repräsentationen im orbito-frontalen Kortex zu verankern. Denn was Menschen wirklich umtreibt – so Spitzer mit Bezug auf andere neurobio­logische Unter­suchungen –, sind nicht Fakten, Daten, Theorien oder abstrakte Regeln, sondern insbesondere „Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen.“ 5

Das heißt: Geschichten gehen uns an, Geschichten führen zu emotionalen Reaktionen – nicht abstrakte Theorien oder Regeln. Unser Gehirn lernt vor allem anhand von Beispielen, und je mehr positive Emotionen dabei beteiligt sind, desto eher führt dies zu den entsprechenden Speicherungen oder Repräsentationen im Gehirn.

Mit anderen Worten: In angenehmen oder beeindruckenden Erzählungen verpackte Werte werden eher internalisiert und führen eher zu Repräsentationen im Gehirn als Fakten, ethische Theorien oder abstrakte Prinzipien. 6

In Klasse 5/6 muss daher immer wieder paradigmatisch geübt werden, mit menschlichen Problemen und Konflikten umzugehen. Spitzer weist dies­bezüglich und in naheliegender Weise explizit auf Geschichten, Erzählungen oder Gleichnisse aus der Bibel hin. 7


4.2.3 Fazit

Den SuS wird die Möglichkeit eröffnet, sich mit Gleichnissen und anderen biblische Geschichten, in denen soziale Werte transportiert werden, zu beschäftigen, diese zu analysieren und zu verstehen, um sie dann kompetent erzählen zu können. Sie machen diese biblischen Geschichten somit zu ihren eigenen Geschichten, durchleben sie beim Erzählen und internalisieren auf diese Weise Werte und erwünschte Konfliktlösungsstrategien, die später das eigene Verhalten beeinflussen werden – und die es ihnen später auch ermöglichen (z.B. in der Kursstufe), auch anhand von abstrakten Prinzipien über Werte nachzudenken und diese zu reflektieren.

Das Einüben des Erzählens im RU im Allgemeinen und in der Klassenstufe 5/6 im Besonderen kann also sowohl ein Beitrag zum Methodencurriculum sein als auch der Grundlegung eines nachhaltigen moralischen Lernens und ethischen Reflektierens dienen.


4.Der aufbauende Lernprozess in Klasse 5/6
4.1 Schritte der moralischen Urteilsbildung
4.3 Lernstandserhebung
    4.3.2 Evaluation

5. Der aufbauende Lernprozess in Klasse 7/8


Aufbauendes Lernen in der Sekundarstufe I: Ethische Kompetenz
Moralisches und ethisches Reflektieren: Herunterladen [pdf] [441 KB]



1   Manfred Hilkert, Einblicke in die Erzählwerkstatt oder: Praktische Tipps für eine gelingende Erzählpraxis, in: Entwurf 2/2003, 57-60. Der Artikel findet sich im Materialanhang. Hilfreich ist auch: Jochen Westhof, Biblische Geschichten lebendig erzählen. Anregungen, Beispiele, Übungen, Gütersloh 2011.
2   Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 2004. / Manfred Spitzer, Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin 2003.
3   Manfred Spitzer, Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin 2003, S. 358.
4   Manfred Spitzer, Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin 2003, S. 359.
5   Manfred Spitzer, Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin 2003. S. 453.
6   Auch das „Vorbildlernen“ im Projekt „Local Heroes“ basiert auf diesen Überlegungem, siehe Kap. 5.2.
7   Manfred Spitzer, Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin 2003, S. 434.