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2. Bedingungsanalyse

Infobox

Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.

 

2.1 Lernstandserhebung


In einer schriftlichen Aufgabe wurde als Lernstandserhebung untersucht, wie es um die Kenntnis und den Zugang zu christlicher Ethik bestellt ist.

Felice Krauthausen: Leben mit einem behinderten Kind

Ich habe ein nun fast sechsjähriges behindertes Kind! Es ist mein erstes und – bis jetzt – einziges Kind. Es gab in diesen sechs Jahren mehrere Momente, in denen bei mir der Wunsch nach einem zweiten Kind aufkam. Ich weiß, dass die Behinderung mit großer Wahrscheinlichkeit erblich ist. Bei der humangenetischen Beratungsstelle sagte man uns (mir und dem Vater des Kindes), dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% das nächste Kind die gleiche Behinderung haben würde. Diese Wahrscheinlichkeit beruht auf Statistiken. [...] Am Anfang habe ich mich viel damit beschäftigt herauszufinden, ob man die Behinderung „rechtzeitig“ feststellen kann. „Rechtzeitig“, um dann noch abzutreiben. Ich glaube, dass, wenn man mir diese Sicherheit geben könnte, ich wieder den Mut dazu hätte, ein zweites Kind zu bekommen. Aber diese Sicherheit konnte mir niemand geben, es war immer nur ein vielleicht. Vielleicht kann man durch aufwändige Ultraschalluntersuchungen die Behinderung vor der 20. Schwangerschaftswoche feststellen, vielleicht durch Röntgenaufnahmen. Vielleicht weiß man bald, welche Gene für diese Behinderung verantwortlich sind, vielleicht kann man die dann bei der Chromosomenanalyse feststellen. Ich bemitleide meinen Sohn nicht. Er ist ein fröhliches Kind, voller Lebenslust, obwohl er manchmal sicherlich Schmerzen hat, und obwohl er sich – im Rahmen seiner Möglichkeiten – seiner Behinderung bewusst ist und von den Einschränkungen weiß, mit denen er leben muss. Er wird sein Leben sicherlich – irgendwie – meistern können. Und ich hoffe, dass er mir nie den Vorwurf machen wird, dass ich ihn in die Welt gesetzt habe oder warum ich nicht alles Menschenmögliche getan habe, um seine Behinderung „rechtzeitig“ festzustellen. Ob er mir später diesen Vorwurf macht oder nicht, das hängt nicht nur von mir, seinem Vater oder seiner näheren Umgebung ab, sondern auch von dem Wert, den sie in unserer zukünftigen Gesellschaft haben werden. Aber die Verantwortung, die bewusste Verantwortung für ein zweites behindertes Kind? Verantwortung auch im Sinn von Risiko eingehen, nur weil ich noch ein zweites Kind will? Vielleicht wäre es anders, wenn man durch eine Fruchtwasseruntersuchung oder eine Chorionzottenbiopsie feststellen könnte, dass das Kind in meinem Bauch mit Sicherheit nicht die gleiche Behinderung hat wie mein erstes. Ich weiß es nicht. Denn ich kann mir nicht vorstellen, ein Kind abzulehnen, nur weil es nicht den gesellschaftlichen – und auch meinen – Normen von Gesundheit und Normalität entspricht. Aber andererseits will ich nur das Beste für mein Kind, will ihm Leiden ersparen. Und ich weiß, dass Behinderte es in dieser Gesellschaft nicht leicht haben, auch die Mütter / Eltern von Behinderten nicht. [...]

zitiert nach: Wilhelm Schwendemann / Matthias Stahlmann: Ethik für das Leben. Neue Aspekte der Biomedizin. Ein Materialheft, Calwer Verlag, Stuttgart 2005. S.50.

Aufgaben:

  1. Stelle die Argumente zusammen, die die Mutter zögern lassen, sich für ein zweites Kind zu entscheiden.
  2. Stell dir vor, Opa Immanuel Kant und Onkel Jeremy Bentham kommen zu Besuch.
    Beide haben sich mit der Situation auseinandergesetzt und ein Statement für ein Gespräch vorbereitet, in dem sie der Frau ihre jeweilige Sichtweise auf das Problem erläutern. Verfasse eines der Statements.
  3. Nimm selbst begründet Stellung. Beziehe dich dabei auch auf Kants und Benthams Argumentationsgang.
  4. Prüfe, ob es einen spezifisch christlichen Zugang zu der Problemstellung gibt.


Die Schülerinnen und verfassten im Rahmen einer Zusatzaufgabe zu einer Klassenarbeit anhand einer Anforderungssituation eine Stellungnahme, die als Lernstandserhebung dient. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler finden sich im Anhang (M6).


Auswertung:

  1. Das häufigste Muster ist: „Vor Gott sind alle gleich“ bzw. „Gott liebt alle Menschen“. Über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler haben dieses Muster als typisch christlichen Zugang gewählt, ohne dafür einen biblischen Beleg anführen zu können.
  2. Fünf Schülerinnen und Schüler verweisen auf das „Recht auf Leben“.
  3. Vier Schülerinnen und Schüler halten die Unterstützung, die Gott den Eltern bzw. dem behinderten Kind gewähren würde, für relevant.
  4. Acht Schülerinnen und Schüler verweisen auf konkrete biblische Texte: dreimal „Du sollst nicht töten“, einmal „10 Gebote“, drei Schülerinnen führen das Gebot der Nächstenliebe an (wenn auch nicht unbedingt präzise) und ein Schüler verweist darauf, dass Jesus Fürsprecher (von Behinderten) war und Menschen geheilt hat. Ein Schüler verweist auf die Geschöpflichkeit menschlichen Lebens.
  5. Drei Schüler halten es für Gottes Willen, wenn ein Kind behindert ist, dem man sich fügen solle.


Folgende Ergebnisse lassen sich daraus ableiten:

  1. Die Schülerinnen und Schüler argumentieren auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen sowohl hinsichtlich des moralischen als auch des religiösen Urteils.
  2. Insgesamt ist die Kenntnis biblischer Begründung christlicher Ethik dürftig und die Fähigkeit sowie die Bereitschaft, solche anzuwenden, nur schwach ausgeprägt. Christliche Positionen werden weitgehend darauf reduziert, dass vor Gott alle Menschen gleich sind und der Mensch nicht töten solle bzw. seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst. Auch Schüler/innen, die ansonsten ein deutlich höheres Niveau haben, fallen bei einem religiösen Urteil in fast kindliche Muster zurück.
  3. Die in den Standards genannten Texte (Dekalog; wichtige Abschnitte der Bergpredigt, zum Beispiel Goldene Regel; Doppelgebot der Liebe) kommen teilweise in den Schüleräußerungen vor; kaum ein Schüler würde jedoch sein Urteil mit einem biblischen Bezug begründen.
  4. Es bleibt fraglich, ob dieser christliche Bestand an Texten ausreicht, um Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass es christliche Ethik über Allgemeinplätze hinaus gibt, an denen sie sich orientieren können.
  5. Für die meisten Schüler/innen scheint christliche Ethik nicht mehr zu sein, als eine Ansammlung von Geboten.

Eine Möglichkeit, mit diesen Ergebnissen weiterzuarbeiten wäre nun, binnendifferenziert vorzugehen, indem man eine Art Aufgabenfächer eröffnet, der bestimmten Kategorien von erhobenem Lernstand entspricht. 1 Dies soll in dieser Doppelstunde, die noch andere Merkmale kompetenzorientierten Unterrichtens zeigen will, nicht unternommen werden.


2.2 Das Thema in der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler


Wie sich bei der Lernstandserhebung gezeigt hat, muss man bei einem normenkritischen Urteil, das aus einem Bereich der medizinischen Ethik stammt, doch eher mit stereotypen Antworten rechnen. Ein Fallbeispiel einer normenkritischen Urteilsbildung, bei dem die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen erwerben können, sollte sich an ihrer Lebenswirklichkeit und deren elementaren Fragen orientieren.

Die Frage nach Wahrheit und Lüge spielt für Heranwachsende eine große Rolle. Vielfach hören sie Lügen in Familie, Freundeskreis und Schule. Oft lügen sie selbst, um sich z.B. Freiheiten zu verschaffen, um Repressionen zu entgehen, um Anerkennung zu erhalten oder sich selbst zu schützen: Ob es nun darum geht, dass man gefragt wird, ob man in einer Klassenarbeit abgeschrieben hat, ob die Tochter den Eltern erzählt, sie sei bei der Freundin gewesen (und dabei war die Freundin ein Freund) – in vielen Situationen greifen Heranwachsende zu sogenannten Notlügen. Sie sind sich aber umgekehrt dessen bewusst, dass die Lüge Vertrauen verletzt, dass sie Loyalität zerbricht und Freundschaft belastet. So reagieren sie oft sehr empfindsam, wenn sie merken, dass jemand sie belügt. Die Lüge kann Freundschaften zerstören, sie stört die Beziehung zu den Eltern (denn auch Eltern belügen ihre Kinder, nicht nur umgekehrt) und zu Lehrkräften und anderen Autoritätspersonen. Die Grenzen zwischen Lüge, Lästern und Mobbing sind oft fließend – insbesondere vor dem Hintergrund der neuen Kommunikationsmedien (sei es auf Internetplattformen oder mit dem Handy per SMS).

Dabei begegnen sie der Norm, dass die Lüge etwas Verbotenes, Unredliches ist. Zwischen der Norm, dem Gefühl für Loyalität und der konkreten Situation, in der sie die Lüge anwenden, erleben sie eine Spannung, die sie mit dem Bild des schlechten Gewissens beschreiben.


Anforderungssituation


Umsetzungsbeispiel Doppelstunde: Herunterladen [pdf] [120 KB]

 


1   Vgl. hierzu Annemarie von der Groeben, Ingrid Kaiser: Rampe, Fächer, Blüte, Gerüst. Aufgabendifferenzierung (1), Pädagogik 4/11. S. 40-45