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Miss­lin­gen­de Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Admet und Al­kes­tis in der „Al­kes­tis“ des Eu­ri­pi­des

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Sach­ana­ly­se

Die „Al­kes­tis“ zeigt die Aus­wir­kun­gen, die sich aus einem Göt­ter­ge­schenk er­ge­ben, das Admet von Apoll er­hält. Admet kann einem frü­hen Tod ent­ge­hen, wenn sich je­mand fin­det, der an sei­ner Stel­le stirbt. Von sei­nen An­ge­hö­ri­gen ist je­doch nur seine Frau be­reit, sich zu op­fern. Dass seine be­tag­ten El­tern sich wei­gern, für ihren Sohn zu ster­ben, wird in dem Stück stark be­tont. Schon in der Er­war­tung Ad­mets, dass seine El­tern für ihn ster­ben wer­den, da sie ja keine lange Le­bens­zeit mehr er­war­ten kön­nen, zeigt sich die pre­kä­re und letzt­lich un­halt­ba­re Si­tua­ti­on, in die das Göt­ter­ge­schenk Apol­los die Men­schen ge­bracht hat. Was ur­sprüng­lich gut ge­meint war, ist für das Zu­sam­men­le­ben der Men­schen eine Be­las­tung, der nie­mand ge­wach­sen ist und auch gar nicht sein kann. Admet kal­ku­liert mit einer uti­li­ta­ris­ti­schen Kühle, die je­doch nicht be­denkt, dass die Quan­ti­tät der aus­ste­hen­den Le­bens­er­war­tung nichts über die Qua­li­tät auch eines noch kur­zen Le­bens aus­sagt. Das Göt­ter­ge­schenk und die Er­war­tung, dass je­mand an­de­res für ihn stirbt, we­cken zudem den Ego­is­mus Ad­mets, der davon aus­geht, dass sein Wei­ter­le­ben selbst das größ­te Opfer eines an­de­ren recht­fer­tigt.

Das Pro­blem lässt sich auch nicht durch das Opfer der Per­son lösen, die ihn am meis­ten liebt und die ihm tat­säch­lich das größt­mög­li­che Ge­schenk ma­chen will. Das Selbstop­fer ver­langt von der Per­son, die sich op­fert, eine Selbst­lo­sig­keit, die Men­schen­maß über­steigt und die welt­fremd ist. Man kann zwar für einen ge­lieb­ten Men­schen das Beste wol­len, aber die ei­ge­ne Exis­tenz dafür auf­zu­ge­ben, wäre eine to­ta­le Liebe, die un­mög­lich ist, weil auch ein lie­ben­der Mensch nicht aus­schließ­lich über diese Liebe be­stimmt ist. Der Le­bens­kreis, in dem Admet und Al­kes­tis leben, ist nicht der ein­zi­ge, der für das Leben der Al­kes­tis kon­sti­tu­tiv ist. Kon­kret fass­bar wird dies bei Al­kes­tis, indem sie nicht nur Gat­tin von Admet ist, son­dern auch Mut­ter von zwei Kin­dern.

An die Ab­schieds­re­de der ster­ben­den Al­kes­tis an ihren Mann Admet las­sen sich vor allem zwei Fra­gen rich­ten

  1. Ge­lingt es Al­kes­tis, sich so von Admet zu ver­ab­schie­den, dass die­ser mög­lichst leicht wei­ter­le­ben kann, dass also das ei­ge­ne Opfer für die ge­lieb­te Per­son einen mög­lichst gro­ßen Nut­zen bringt und dass Admet das Opfer auch mög­lichst leicht an­neh­men kann?
  2. Ge­lingt es Al­kes­tis, selbst leicht zu ster­ben, „los­zu­las­sen“ und letzt­lich mit dem Ge­fühl, etwas Sinn­vol­les getan zu haben, Ab­schied zu neh­men?

Beide Fra­gen muss man eher ver­nei­nen. Dies spricht nicht gegen Al­kes­tis, son­dern gegen die von Apol­lo her­ge­stell­te Kon­stel­la­ti­on, die Men­schen­maß über­steigt und die Men­schen not­wen­di­ger­wei­se­über­for­dern muss.

Ein Selbstop­fer würde be­deu­ten, dass der an­de­re über das Ge­schenk nach frei­em Wil­len ver­fü­gen kann. Dies ist je­doch bei Al­kes­tis und Admet nicht der Fall. Sie gibt ihr Leben letzt­lich doch nicht vor­be­halt­los auf. Sie macht Admet Vor­schrif­ten, wie er mit sei­nem wei­te­ren Leben, also ihrem Ge­schenk, um­ge­hen soll: er soll im In­ter­es­se der Kin­der keine zwei­te Ehe ein­ge­hen. Damit zeigt sie auch wenig Ver­trau­en zu Admet, denn sie rech­net damit, dass er eine un­ge­eig­ne­te zwei­te Frau hei­ra­ten könn­te. Mit die­sem Hin­weis macht sie auf ihre Un­er­setz­lich­keit auf­merk­sam. Auch die Stei­ge­rungs­for­men (vor allem der Su­per­la­tiv am Ende ihrer Rede, sie sei die beste Frau) un­ter­strei­chen die Größe des Ver­lus­tes, den Admet mit ihrem Tod er­lei­den muss. Auch die häu­fi­ge Ver­wen­dung des Per­so­nal­pro­no­mens in der ers­ten Per­son zeigt, dass Al­kes­tis ihr Leben nicht leicht „los­las­sen“ kann, dass sie - ver­ständ­li­cher­wei­se - an ihrem Da­sein hängt. Dass ihr Opfer groß, über­groß ist, macht sie eben­falls deut­lich: sie hätte ja einen zwei­ten Mann hei­ra­ten kön­nen, d.h. sie hat viel für Admet auf­ge­ge­ben. Und wenn sie mit dem Ver­zicht einer wei­te­ren Ehe eine Ge­gen­leis­tung ver­langt, dann be­tont sie, dass diese in jedem Fall ge­rin­ger ist als ihr Opfer. Admet könn­te des­halb durch­aus ein schlech­tes Ge­wis­sen haben. Ein ver­steck­ter Vor­wurf liegt auch in dem Hin­weis der Al­kes­tis, dass sie keine Wai­sen­kin­der er­zie­hen woll­te - eben die­ses wird Admet nun tun müs­sen!

Ins­ge­samt sind große Teile ihrer Rede nicht ge­eig­net, Admet das Wei­ter­le­ben und das An­neh­men des Op­fers leicht zu ma­chen. Sie malt etwa im Ir­rea­lis aus, was ge­sche­hen wäre, wenn die Schwie­ger­el­tern sich ge­op­fert hät­ten, und im Rea­lis be­schreibt sie die miss­li­che Rea­li­tät. Sie löst sich letzt­lich nicht von den ne­ga­ti­ven As­pek­ten, son­dern weist Admet auf die of­fe­nen Kon­flik­te hin. Wenn man be­denkt, dass ihre letz­ten Worte Admet be­son­ders prä­sent blei­ben wer­den, wird man fest­stel­len müs­sen, dass der letz­te Ein­druck von Al­kes­tis mit vie­len ne­ga­ti­ven und be­las­ten­den Er­in­ne­run­gen ver­knüpft sein wird. Nicht zu­letzt muss er mit dem Be­wusst­sein leben, dass Al­kes­tis mehr ge­ge­ben hat, als er je­mals zu­rück­ge­ben kann.

Bei Admet wird deut­lich, dass für ihn das Ge­schenk sei­nen Sinn ein­büßt. Er kann zwar wei­ter­le­ben, aber ohne Freu­de und Glück. Er ge­winnt ein Leben ohne Sinn. Er er­war­tet eine nicht en­den­de Trau­er­zeit. Man fragt sich, wes­halb er über­haupt die­ses Ge­schenk an­ge­nom­men hat, das Wei­ter­le­ben, aber Ver­lust des Le­bens­glü­ckes be­deu­tet. Auch Admet spricht aus einer ge­wis­sen Ego­zen­trik her­aus. Er weist auf seine Trau­er hin und ent­lässt damit seine Frau mit dem Ge­fühl, sich um­sonst ge­op­fert zu haben. Sein wei­te­res Leben - so führt Admet aus - soll von fort­wäh­ren­der Trau­er be­stimmt sein, und zum zwei­ten flüch­tet er in eine Er­satz­welt. Er will sich eine Sta­tue von Al­kes­tis an­fer­ti­gen las­sen, mit der er dann so spre­chen und leben möch­te, als wäre die reale Al­kes­tis da. Dies ist ein Le­bens­ent­wurf, der ganz der Ver­gan­gen­heit ver­haf­tet ist und der Ge­gen­wart, über­haupt der Le­bens­rea­li­tät, aus­weicht. Auch sein Ver­weis auf Or­pheus zeigt diese Flucht vor der Wirk­lich­keit. Er spricht im Ir­rea­lis davon, dass er am liebs­ten wie Or­pheus die tote Gat­tin wie­der aus der Un­ter­welt her­vor­ho­len möch­te. Schon der Modus zeigt den Rea­li­täts­ver­lust, aber auch die Ver­ken­nung des My­thos selbst: Or­pheus hat ge­ra­de nicht die Gat­tin wie­der ins Leben ge­bracht - und sein Um­dre­hen hat zudem sei­nen Grund­feh­ler of­fen­bart: Or­pheus woll­te eine tote, ge­lieb­te Per­son nicht nur in der Er­in­ne­rung und im Her­zen tra­gen, son­dern sie wie­der leib­haf­tig bei sich haben. Eben dies ist un­mög­lich, und dies führt der Or­pheus-My­thos vor.

Die be­son­de­re Kon­stel­la­ti­on des Le­bens­tau­sches zeigt, dass die Men­schen über­for­dert sind und dass sie gar nicht an­ge­mes­sen und rich­tig agie­ren und spre­chen kön­nen. Da das gött­li­che Ge­schenk un­mensch­lich, dem mensch­li­chen Emp­fin­den fremd und ent­ge­gen­ge­setzt ist, wer­den die mensch­li­chen Be­zie­hun­gen bis zu dem Grad be­las­tet, dass Brü­che deut­lich wer­den. Be­son­ders die Art, wie Al­kes­tis und Admet mit­ein­an­der spre­chen, die Art ihrer Kom­mu­ni­ka­ti­on zeigt diese Be­las­tung. Ihre Sätze ma­chen dem an­de­ren das Leben bzw. den Tod nicht leich­ter, son­dern ver­keh­ren den an­ge­streb­ten po­si­ti­ven Sinn in Sinn­lo­sig­keit. Das Drama zeigt dies, und dem Zu­schau­er bzw. dem Leser bleibt das Nach­den­ken dar­über über­las­sen, wie das Wei­ter­le­ben nach der deus-ex-ma­chi­na-Ret­tung durch He­ra­kles ab­lau­fen soll. Es ist un­denk­bar, dass Admet und Al­kes­tis nach die­sen Er­eig­nis­sen bruch­los an ihr frü­he­res glück­li­ches Zu­sam­men­le­ben an­knüp­fen kön­nen. Die Ab­grün­de, in die sie das Göt­ter­ge­schenk ge­stürzt hat, sind zu deut­lich ge­wor­den, als dass dies mög­lich er­scheint.

 


Un­ter­richts­mo­del­le zur För­de­run­gen der per­so­na­len Kom­pe­ten­zen bei der In­ter­pre­ta­ti­ons­ar­beit: Her­un­ter­la­den [doc][623 KB]

 

wei­ter mit Ab­schieds­re­de von Al­kes­tis