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Ein­füh­rung

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


Das hier vor­ge­stell­te Rol­len­spiel er­öff­net Schü­ler (fort­an S) der zehn­ten Klas­se einen hand­lungs­ori­en­tier­ten Zu­gang zur Ge­stalt des So­kra­tes, durch den die­ser Phi­lo­soph in der Wahr­neh­mung sei­ner Zeit­ge­nos­sen aus mög­lichst vie­len Per­spek­ti­ven wahr­nehm- und er­leb­bar wird.

So­kra­tes fas­zi­niert und po­la­ri­siert – auch heute noch. Als Beleg ließe sich „The new trial of So­cra­tes” an­füh­ren, eine Abend­ver­an­stal­tung der Onass­sis-Foun­da­ti­on in Athen am 25. Mai des Jah­res 2012: Vor rea­lem und vir­tu­el­lem Pu­bli­kum, wel­ches das Ge­sche­hen über einen Li­vestream im In­ter­net ver­fol­gen konn­te, er­öff­ne­ten in­ter­na­tio­na­le Ex­per­ten aus Phi­lo­so­phie- und Rechts­ge­schich­te das Ver­fah­ren des athe­ni­schen Vol­kes gegen So­kra­tes neu. Im An­schluss an die Ex­per­ten-Jury durf­te das Pu­bli­kum per World-Wide-Web über die Schuld des an­ti­ken Phi­lo­so­phen be­fin­den. In Zei­ten von „DSDS“ (Deutsch­land sucht den Su­per­star) bie­tet sich, so könn­te man scherz­haft an­mer­ken, auch „ARDS“ – „Athen rich­tet den So­kra­tes“ – an. 1

Sucht man nach wei­te­ren Ver­su­chen, den Pro­zess gegen So­kra­tes in Szene zu set­zen, so trifft man auf ein Rol­len­spiel, das die US-ame­ri­ka­ni­sche ka­tho­li­sche Der­ham-Hall-High­school im Kurs­an­ge­bot hat: Mit um­fäng­li­chen Vor­ga­ben, aber ohne Lek­tü­re der his­to­ri­schen Quel­len, wird ein Ge­richts­ver­fah­ren si­mu­liert, bei dem die S in fest vor­ge­ge­be­nen his­to­ri­schen Rol­len als Zeu­gen und, ab­wei­chend vom his­to­ri­schen Pro­zess, als (je ein) An­walt für An­kla­ge und Ver­tei­di­gung auf­tre­ten. 2 Das Pro­ce­de­re ori­en­tiert sich of­fen­sicht­lich an der Pra­xis ame­ri­ka­ni­scher Ge­richts­ver­fah­ren. 3 Aus­ge­spro­che­nes Ziel die­ses Kur­ses ist es laut der An­kün­di­gung, den S ein „un­der­stan­ding of the so­ci­al cli­ma­te in Athens du­ring the time of So­cra­tes“ 4 zu ver­mit­teln. Die be­tei­lig­ten Lehr­per­so­nen über­neh­men dabei eine dop­pel­te Ju­ro­ren­rol­le: ein­mal als Ver­tre­ter der his­to­ri­schen Rich­ter, zu­gleich je­doch be­wer­te­ten sie die ‚Per­for­mance‘ ihrer S nach Kom­pe­tenz­stan­dards, wo­durch die for­ma­le An­rech­nung des Kur­ses mög­lich wird. 5

Auch wenn diese Bei­spie­le von der Fas­zi­na­ti­on durch So­kra­tes zeu­gen, so ver­en­gen sie die Wahr­neh­mung des Phi­lo­so­phen doch allzu sehr auf die Schuld­fra­ge. Das hier vor­ge­stell­te Rol­len­spiel möch­te auch jen­seits die­ses As­pekts mög­lichst viele Fa­cet­ten die­ser für S fas­zi­nie­ren­den Ge­stalt er­fas­sen und zwar im un­mit­tel­ba­ren An­schluss an die Lek­tü­re von Pla­tons „Apo­lo­gie“.

Doch warum fällt die Wahl für ein sze­ni­sches Spiel über­haupt auf die „Apo­lo­gie“ und nicht auf einen ge­nui­nen pla­to­ni­schen Dia­log. Schon in der An­ti­ke führ­ten Kin­der – und Er­wach­se­ne pla­to­ni­sche Dia­lo­ge als Dra­men auf 6 , man be­fän­de sich also in einer alt­ehr­wür­di­gen Tra­di­ti­on. – Und auch die Auf­füh­rung eines pla­to­ni­schen Dia­logs wie etwa des „Sym­po­si­ons“ oder des „Prot­ago­ras“ 7 er­öff­net si­cher­lich in­ter­pre­ta­to­ri­sche Ein­sich­ten, die erst durch die dra­ma­tur­gi­sche Um­set­zung er­mög­licht wer­den. 8 Die „Apo­lo­gie“ hat je­doch fol­gen­de Vor­tei­le ge­gen­über der In­sze­nie­rung eines ‚fer­ti­gen‘ Dia­logs:

  1. Ein sze­ni­sches Spiel im An­schluss an die Lek­tü­re von Pas­sa­gen der „Apo­lo­gie“ bie­tet einen un­gleich hö­he­ren her­me­neu­ti­schen Mehr­wert: Denn in den ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven sei­ner Zeit­ge­nos­sen ge­winnt die Ge­stalt des So­kra­tes für die S in hohem Maße an Plas­ti­zi­tät. Mit­hil­fe des Spiels kann somit ein Teil der ge­mein­sa­men In­ter­pre­ta­ti­ons­ar­beit er­setzt wer­den.
  2. Ganz prag­ma­tisch: Die „Apo­lo­gie“ ist häu­fig Grund­la­ge der Gra­e­cums-Prü­fung.
  3. Sie ist der pla­to­ni­sche Text, der am ehes­ten die his­to­ri­sche Ge­stalt des So­kra­tes er­kenn­bar wer­den lässt – und bei allen phi­lo­so­phi­schen Fra­ge­stel­lun­gen geht es den S um die Ge­stalt des So­kra­tes als eines kon­kret vor­stell­ba­ren Men­schen ‚aus Fleisch und Blut‘.– Na­tür­lich muss den S dabei immer klar sein, dass der Leser So­kra­tes hier so er­lebt, wie ihn sein Schü­ler Pla­ton dar­stellt!
  4. Die Ver­tei­di­gungs­re­de des So­kra­tes bie­tet viele klare ‚Leer­stel­len‘ 9 , die zum Teil aber gut zu prä­zi­sie­ren sind, bei­spiels­wei­se die mehr­ma­li­ge Auf­for­de­rung an die „Athe­ner“, „nicht zu lär­men“ oder das Ver­hör des Mele­tos und die Zeu­gen­aus­sa­ge des Chai­re­kra­tes, des Bru­ders des Chai­re­phon, der das be­rühm­te Ora­kel von Del­phi ein­ge­holt hat.
  5. Die emo­tio­na­le Pro­zess-Stim­mung legt For­men der In­ter­ak­ti­on nahe. Auch S wird der Zu­gang durch die Po­la­ri­sie­rung der Mei­nun­gen im Pro­zess er­leich­tert.
    Al­ler­dings darf über der Schuld­fra­ge nicht die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät aus dem Blick ge­ra­ten: Es geht in der Apo­lo­gie bei­spiels­wei­se auch um pu­ber­tie­ren­de Ju­gend­li­che, die gegen ihre El­tern und über­haupt die gan­zen ‚Spie­ßer‘ auf­be­geh­ren und in So­kra­tes ein ‚coo­les‘ Vor­bild ge­fun­den haben, das ihnen zeigt, wie man ‚den Laden mal so rich­tig auf­mischt‘ – so ein­ge­fan­gen in der Rolle der „Ka­ko­dai­mo­nis­tai“ (Rol­len­kar­ten 17-20).
    Was S an So­kra­tes und sei­nem Um­feld fas­zi­niert, ist we­ni­ger der ‚hei­li­ge‘ to­des­ver­ach­ten­de Phi­lo­soph auf dem So­ckel der Phi­lo­so­phie­ge­schich­te, son­dern der greif­ba­re – und in man­chem ja auch an­greif­ba­re – Mensch So­kra­tes, der ra­di­kal alles Über­kom­me­ne in Frage stellt.

 


1   Ein Video zu der Ver­an­stal­tung lässt sich unter http://​www.​sgt.​gr/​en/​pro­gram­me/​event/​688 (“The New Trial of So­cra­tes”) ab­ru­fen.
2   http://​www.​cre­tin-​der­ham­hall.​org

Als Be­wer­tungs­ka­te­go­ri­en waren vor­ge­ge­ben:

  • 5 – Out­stan­ding (de­fi­ni­te­ly knows the cha­rac­ter/plays role ex­tre­me­ly well)
  • 4 – Good (some is­su­es, but on the whole solid per­for­mance)
  • 3 – De­cent (made ef­fort, but could have done much more)
  • 2 – Poor (bum­bled all over ever­y­thing, but knew so­me­thing)
  • 1 – Oops (ap­pears to have no prep at all)” (a.a.O., S. 12)

3   A.a.O., S. 13-15
4   A.a.O., S. 1.
5   A.a.O., S. 2.
6   Plut­arch, Qua­es­tio­nes con­vi­va­les 7, 8, 1, 711b–c; vgl. M. Erler 2007:Klei­nes Werkle­xi­kon Pla­ton, Stutt­gart, S. 81.
7   Vgl. W. Ku­chen­mül­ler 1962: Prot­ago­ras. Ein Spiel nach Pla­ton, Bei­la­ge zu AU 5.4 (1962).
8   Zu Pla­ton als Dra­ma­turg vgl. jüngst Cha­r­al­abo­pou­los 2012.
9   Der von Wolf­gang Iser ein­ge­führ­te Be­griff ‚Leer­stel­le‘ ist in ein­fa­che An­füh­rungs­zei­chen ge­setzt, da des­sen Ver­wen­dung aus re­zep­ti­ons­äs­the­ti­schen Er­wä­gun­gen un­prä­zi­se ist. - Denn Li­te­ra­tur bie­tet im Un­ter­schied zur Rea­li­tät theo­re­tisch un­be­grenz­te „Unter- oder Un­be­stimmt­hei­ten“, die der Leser je im Kon­text ak­tua­li­sie­ren muss, um ein ei­ge­nes Text­ver­ständ­nis zu ge­win­nen (Wald­mann 2011, S. 16f.).

 

Ein­füh­rung und Li­te­ra­tur: Her­un­ter­la­den [doc][70 KB]

Ein­füh­rung und Li­te­ra­tur: Her­un­ter­la­den [pdf][275 KB]

 

wei­ter mit Rol­len­kar­ten