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Einführung


Das hier vorgestellte Rollenspiel eröffnet Schüler (fortan S) der zehnten Klasse einen handlungsorientierten Zugang zur Gestalt des Sokrates, durch den dieser Philosoph in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen aus möglichst vielen Perspektiven wahrnehm- und erlebbar wird.

Sokrates fasziniert und polarisiert – auch heute noch. Als Beleg ließe sich „The new trial of Socrates” anführen, eine Abendveranstaltung der Onasssis-Foundation in Athen am 25. Mai des Jahres 2012: Vor realem und virtuellem Publikum, welches das Geschehen über einen Livestream im Internet verfolgen konnte, eröffneten internationale Experten aus Philosophie- und Rechtsgeschichte das Verfahren des athenischen Volkes gegen Sokrates neu. Im Anschluss an die Experten-Jury durfte das Publikum per World-Wide-Web über die Schuld des antiken Philosophen befinden. In Zeiten von „DSDS“ (Deutschland sucht den Superstar) bietet sich, so könnte man scherzhaft anmerken, auch „ARDS“ – „Athen richtet den Sokrates“ – an. 1

Sucht man nach weiteren Versuchen, den Prozess gegen Sokrates in Szene zu setzen, so trifft man auf ein Rollenspiel, das die US-amerikanische katholische Derham-Hall-Highschool im Kursangebot hat: Mit umfänglichen Vorgaben, aber ohne Lektüre der historischen Quellen, wird ein Gerichtsverfahren simuliert, bei dem die S in fest vorgegebenen historischen Rollen als Zeugen und, abweichend vom historischen Prozess, als (je ein) Anwalt für Anklage und Verteidigung auftreten. 2 Das Procedere orientiert sich offensichtlich an der Praxis amerikanischer Gerichtsverfahren. 3 Ausgesprochenes Ziel dieses Kurses ist es laut der Ankündigung, den S ein „understanding of the social climate in Athens during the time of Socrates“ 4 zu vermitteln. Die beteiligten Lehrpersonen übernehmen dabei eine doppelte Jurorenrolle: einmal als Vertreter der historischen Richter, zugleich jedoch bewerteten sie die ‚Performance‘ ihrer S nach Kompetenzstandards, wodurch die formale Anrechnung des Kurses möglich wird. 5

Auch wenn diese Beispiele von der Faszination durch Sokrates zeugen, so verengen sie die Wahrnehmung des Philosophen doch allzu sehr auf die Schuldfrage. Das hier vorgestellte Rollenspiel möchte auch jenseits dieses Aspekts möglichst viele Facetten dieser für S faszinierenden Gestalt erfassen und zwar im unmittelbaren Anschluss an die Lektüre von Platons „Apologie“.

Doch warum fällt die Wahl für ein szenisches Spiel überhaupt auf die „Apologie“ und nicht auf einen genuinen platonischen Dialog. Schon in der Antike führten Kinder – und Erwachsene platonische Dialoge als Dramen auf 6 , man befände sich also in einer altehrwürdigen Tradition. – Und auch die Aufführung eines platonischen Dialogs wie etwa des „Symposions“ oder des „Protagoras“ 7 eröffnet sicherlich interpretatorische Einsichten, die erst durch die dramaturgische Umsetzung ermöglicht werden. 8 Die „Apologie“ hat jedoch folgende Vorteile gegenüber der Inszenierung eines ‚fertigen‘ Dialogs:

  1. Ein szenisches Spiel im Anschluss an die Lektüre von Passagen der „Apologie“ bietet einen ungleich höheren hermeneutischen Mehrwert: Denn in den verschiedenen Perspektiven seiner Zeitgenossen gewinnt die Gestalt des Sokrates für die S in hohem Maße an Plastizität. Mithilfe des Spiels kann somit ein Teil der gemeinsamen Interpretationsarbeit ersetzt werden.
  2. Ganz pragmatisch: Die „Apologie“ ist häufig Grundlage der Graecums-Prüfung.
  3. Sie ist der platonische Text, der am ehesten die historische Gestalt des Sokrates erkennbar werden lässt – und bei allen philosophischen Fragestellungen geht es den S um die Gestalt des Sokrates als eines konkret vorstellbaren Menschen ‚aus Fleisch und Blut‘.– Natürlich muss den S dabei immer klar sein, dass der Leser Sokrates hier so erlebt, wie ihn sein Schüler Platon darstellt!
  4. Die Verteidigungsrede des Sokrates bietet viele klare ‚Leerstellen‘ 9 , die zum Teil aber gut zu präzisieren sind, beispielsweise die mehrmalige Aufforderung an die „Athener“, „nicht zu lärmen“ oder das Verhör des Meletos und die Zeugenaussage des Chairekrates, des Bruders des Chairephon, der das berühmte Orakel von Delphi eingeholt hat.
  5. Die emotionale Prozess-Stimmung legt Formen der Interaktion nahe. Auch S wird der Zugang durch die Polarisierung der Meinungen im Prozess erleichtert.
    Allerdings darf über der Schuldfrage nicht die Multiperspektivität aus dem Blick geraten: Es geht in der Apologie beispielsweise auch um pubertierende Jugendliche, die gegen ihre Eltern und überhaupt die ganzen ‚Spießer‘ aufbegehren und in Sokrates ein ‚cooles‘ Vorbild gefunden haben, das ihnen zeigt, wie man ‚den Laden mal so richtig aufmischt‘ – so eingefangen in der Rolle der „Kakodaimonistai“ (Rollenkarten 17-20).
    Was S an Sokrates und seinem Umfeld fasziniert, ist weniger der ‚heilige‘ todesverachtende Philosoph auf dem Sockel der Philosophiegeschichte, sondern der greifbare – und in manchem ja auch angreifbare – Mensch Sokrates, der radikal alles Überkommene in Frage stellt.

 


1   Ein Video zu der Veranstaltung lässt sich unter http://www.sgt.gr/en/programme/event/688 (“The New Trial of Socrates”) abrufen.
2   http://www.cretin-derhamhall.org

Als Bewertungskategorien waren vorgegeben:

  • 5 – Outstanding (definitely knows the character/plays role extremely well)
  • 4 – Good (some issues, but on the whole solid performance)
  • 3 – Decent (made effort, but could have done much more)
  • 2 – Poor (bumbled all over everything, but knew something)
  • 1 – Oops (appears to have no prep at all)” (a.a.O., S. 12)

3   A.a.O., S. 13-15
4   A.a.O., S. 1.
5   A.a.O., S. 2.
6   Plutarch, Quaestiones convivales 7, 8, 1, 711b–c; vgl. M. Erler 2007:Kleines Werklexikon Platon, Stuttgart, S. 81.
7   Vgl. W. Kuchenmüller 1962: Protagoras. Ein Spiel nach Platon, Beilage zu AU 5.4 (1962).
8   Zu Platon als Dramaturg vgl. jüngst Charalabopoulos 2012.
9   Der von Wolfgang Iser eingeführte Begriff ‚Leerstelle‘ ist in einfache Anführungszeichen gesetzt, da dessen Verwendung aus rezeptionsästhetischen Erwägungen unpräzise ist. - Denn Literatur bietet im Unterschied zur Realität theoretisch unbegrenzte „Unter- oder Unbestimmtheiten“, die der Leser je im Kontext aktualisieren muss, um ein eigenes Textverständnis zu gewinnen (Waldmann 2011, S. 16f.).

 

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