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Misslingende Kommunikation zwischen Admet und Alkestis in der „Alkestis“ des Euripides

Sachanalyse

Die „Alkestis“ zeigt die Auswirkungen, die sich aus einem Göttergeschenk ergeben, das Admet von Apoll erhält. Admet kann einem frühen Tod entgehen, wenn sich jemand findet, der an seiner Stelle stirbt. Von seinen Angehörigen ist jedoch nur seine Frau bereit, sich zu opfern. Dass seine betagten Eltern sich weigern, für ihren Sohn zu sterben, wird in dem Stück stark betont. Schon in der Erwartung Admets, dass seine Eltern für ihn sterben werden, da sie ja keine lange Lebenszeit mehr erwarten können, zeigt sich die prekäre und letztlich unhaltbare Situation, in die das Göttergeschenk Apollos die Menschen gebracht hat. Was ursprünglich gut gemeint war, ist für das Zusammenleben der Menschen eine Belastung, der niemand gewachsen ist und auch gar nicht sein kann. Admet kalkuliert mit einer utilitaristischen Kühle, die jedoch nicht bedenkt, dass die Quantität der ausstehenden Lebenserwartung nichts über die Qualität auch eines noch kurzen Lebens aussagt. Das Göttergeschenk und die Erwartung, dass jemand anderes für ihn stirbt, wecken zudem den Egoismus Admets, der davon ausgeht, dass sein Weiterleben selbst das größte Opfer eines anderen rechtfertigt.

Das Problem lässt sich auch nicht durch das Opfer der Person lösen, die ihn am meisten liebt und die ihm tatsächlich das größtmögliche Geschenk machen will. Das Selbstopfer verlangt von der Person, die sich opfert, eine Selbstlosigkeit, die Menschenmaß übersteigt und die weltfremd ist. Man kann zwar für einen geliebten Menschen das Beste wollen, aber die eigene Existenz dafür aufzugeben, wäre eine totale Liebe, die unmöglich ist, weil auch ein liebender Mensch nicht ausschließlich über diese Liebe bestimmt ist. Der Lebenskreis, in dem Admet und Alkestis leben, ist nicht der einzige, der für das Leben der Alkestis konstitutiv ist. Konkret fassbar wird dies bei Alkestis, indem sie nicht nur Gattin von Admet ist, sondern auch Mutter von zwei Kindern.

An die Abschiedsrede der sterbenden Alkestis an ihren Mann Admet lassen sich vor allem zwei Fragen richten

  1. Gelingt es Alkestis, sich so von Admet zu verabschieden, dass dieser möglichst leicht weiterleben kann, dass also das eigene Opfer für die geliebte Person einen möglichst großen Nutzen bringt und dass Admet das Opfer auch möglichst leicht annehmen kann?
  2. Gelingt es Alkestis, selbst leicht zu sterben, „loszulassen“ und letztlich mit dem Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben, Abschied zu nehmen?

Beide Fragen muss man eher verneinen. Dies spricht nicht gegen Alkestis, sondern gegen die von Apollo hergestellte Konstellation, die Menschenmaß übersteigt und die Menschen notwendigerweiseüberfordern muss.

Ein Selbstopfer würde bedeuten, dass der andere über das Geschenk nach freiem Willen verfügen kann. Dies ist jedoch bei Alkestis und Admet nicht der Fall. Sie gibt ihr Leben letztlich doch nicht vorbehaltlos auf. Sie macht Admet Vorschriften, wie er mit seinem weiteren Leben, also ihrem Geschenk, umgehen soll: er soll im Interesse der Kinder keine zweite Ehe eingehen. Damit zeigt sie auch wenig Vertrauen zu Admet, denn sie rechnet damit, dass er eine ungeeignete zweite Frau heiraten könnte. Mit diesem Hinweis macht sie auf ihre Unersetzlichkeit aufmerksam. Auch die Steigerungsformen (vor allem der Superlativ am Ende ihrer Rede, sie sei die beste Frau) unterstreichen die Größe des Verlustes, den Admet mit ihrem Tod erleiden muss. Auch die häufige Verwendung des Personalpronomens in der ersten Person zeigt, dass Alkestis ihr Leben nicht leicht „loslassen“ kann, dass sie - verständlicherweise - an ihrem Dasein hängt. Dass ihr Opfer groß, übergroß ist, macht sie ebenfalls deutlich: sie hätte ja einen zweiten Mann heiraten können, d.h. sie hat viel für Admet aufgegeben. Und wenn sie mit dem Verzicht einer weiteren Ehe eine Gegenleistung verlangt, dann betont sie, dass diese in jedem Fall geringer ist als ihr Opfer. Admet könnte deshalb durchaus ein schlechtes Gewissen haben. Ein versteckter Vorwurf liegt auch in dem Hinweis der Alkestis, dass sie keine Waisenkinder erziehen wollte - eben dieses wird Admet nun tun müssen!

Insgesamt sind große Teile ihrer Rede nicht geeignet, Admet das Weiterleben und das Annehmen des Opfers leicht zu machen. Sie malt etwa im Irrealis aus, was geschehen wäre, wenn die Schwiegereltern sich geopfert hätten, und im Realis beschreibt sie die missliche Realität. Sie löst sich letztlich nicht von den negativen Aspekten, sondern weist Admet auf die offenen Konflikte hin. Wenn man bedenkt, dass ihre letzten Worte Admet besonders präsent bleiben werden, wird man feststellen müssen, dass der letzte Eindruck von Alkestis mit vielen negativen und belastenden Erinnerungen verknüpft sein wird. Nicht zuletzt muss er mit dem Bewusstsein leben, dass Alkestis mehr gegeben hat, als er jemals zurückgeben kann.

Bei Admet wird deutlich, dass für ihn das Geschenk seinen Sinn einbüßt. Er kann zwar weiterleben, aber ohne Freude und Glück. Er gewinnt ein Leben ohne Sinn. Er erwartet eine nicht endende Trauerzeit. Man fragt sich, weshalb er überhaupt dieses Geschenk angenommen hat, das Weiterleben, aber Verlust des Lebensglückes bedeutet. Auch Admet spricht aus einer gewissen Egozentrik heraus. Er weist auf seine Trauer hin und entlässt damit seine Frau mit dem Gefühl, sich umsonst geopfert zu haben. Sein weiteres Leben - so führt Admet aus - soll von fortwährender Trauer bestimmt sein, und zum zweiten flüchtet er in eine Ersatzwelt. Er will sich eine Statue von Alkestis anfertigen lassen, mit der er dann so sprechen und leben möchte, als wäre die reale Alkestis da. Dies ist ein Lebensentwurf, der ganz der Vergangenheit verhaftet ist und der Gegenwart, überhaupt der Lebensrealität, ausweicht. Auch sein Verweis auf Orpheus zeigt diese Flucht vor der Wirklichkeit. Er spricht im Irrealis davon, dass er am liebsten wie Orpheus die tote Gattin wieder aus der Unterwelt hervorholen möchte. Schon der Modus zeigt den Realitätsverlust, aber auch die Verkennung des Mythos selbst: Orpheus hat gerade nicht die Gattin wieder ins Leben gebracht - und sein Umdrehen hat zudem seinen Grundfehler offenbart: Orpheus wollte eine tote, geliebte Person nicht nur in der Erinnerung und im Herzen tragen, sondern sie wieder leibhaftig bei sich haben. Eben dies ist unmöglich, und dies führt der Orpheus-Mythos vor.

Die besondere Konstellation des Lebenstausches zeigt, dass die Menschen überfordert sind und dass sie gar nicht angemessen und richtig agieren und sprechen können. Da das göttliche Geschenk unmenschlich, dem menschlichen Empfinden fremd und entgegengesetzt ist, werden die menschlichen Beziehungen bis zu dem Grad belastet, dass Brüche deutlich werden. Besonders die Art, wie Alkestis und Admet miteinander sprechen, die Art ihrer Kommunikation zeigt diese Belastung. Ihre Sätze machen dem anderen das Leben bzw. den Tod nicht leichter, sondern verkehren den angestrebten positiven Sinn in Sinnlosigkeit. Das Drama zeigt dies, und dem Zuschauer bzw. dem Leser bleibt das Nachdenken darüber überlassen, wie das Weiterleben nach der deus-ex-machina-Rettung durch Herakles ablaufen soll. Es ist undenkbar, dass Admet und Alkestis nach diesen Ereignissen bruchlos an ihr früheres glückliches Zusammenleben anknüpfen können. Die Abgründe, in die sie das Göttergeschenk gestürzt hat, sind zu deutlich geworden, als dass dies möglich erscheint.

 


Unterrichtsmodelle zur Förderungen der personalen Kompetenzen bei der Interpretationsarbeit: Herunterladen [doc][623 KB]

 

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