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Konstruktivistische Lerntheorien

Infobox

Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.

In der Lerntheorie hat man in den letzten Jahren wichtige neue Erkenntnisse gewonnen, die die Bildungspläne nachhaltig prägen. Lange Zeit hat man Stoff vermittelt und ging davon aus, dass „im Unterricht behandelt = gelernt = gewusst = verstanden“ sei. Fehlende Kenntnisse oder fehlende Fertigkeiten führte man auf mangelnde Begabung oder mangelnde Motivation der Schülerinnen und Schüler zurück.
Inzwischen hat man jedoch umfangreiche Einblicke in menschliche Lernprozesse gewonnen. Sie knüpfen an die erkenntnistheoretische Annahme an, dass Menschen die Wirklichkeit nicht in der gleichen Form erleben, sondern dass Wissen im erkennenden Subjekt entsteht .[46] Eine für alle Individuen gleichermaßen „objektiv erkennbare Wirklichkeit“ wird damit in Frage gestellt. [47]
Jeder Mensch konstruiert sein Wissen in individueller Form selbst. Eindrücke, die er – im Alltag und in bewusst intendierten Lernprozessen – gewinnt, werden ständig neu „konstruiert“ und „dekonstruiert“, so dass der einzelne Mensch damit zu einer ganz individuellen Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit, der Interpretation von Welt und Wissen kommt. Mehrere Schülerinnen und Schüler, die sich mit demselben Stoff beschäftigen, werden damit individuelle „Konstruktionen“ erstellen, also diesen Stoff in unterschiedlicher Weise wahrnehmen, verarbeiten und in ihre Denkstrukturen einfügen .[48] Das „Wissen“ der Schülerinnen und Schüler stellt somit ein hochindividuelles Konstrukt dar, das jeder Erkennende nach seinen eigenen Bedingungen herstellt. [49] Ein gemeinsamer Lernprozess, bei der die gesamte - in sich recht homogene - Lerngruppe identische Resultate erreicht, ist damit eine Illusion, denn selbst in einem Frontalunterricht ist die jeweilige Rezeption des Stoffes hoch individuell, und die Denkkonstrukte der Schülerinnen und Schüler sind von der Lehrkraft nicht einzusehen. [50]

Wie ist nun in diesem Kontext „Lernen“ zu verstehen?
Der Mensch hat – wie oben dargestellt – eine höchst individuelle Konstruktion von Wissen, die sich aus Eindrücken und Lernprozessen unterschiedlichster Art zusammensetzt. So bringen die Schülerinnen und Schüler im Fach Religion neben den Lernerfahrungen im Religionsunterricht auch die eigene religiöse Sozialisation, Diskussionen in der Familie, den Erstkommunionunterricht, die Kinderbibel, eventuell Diskussionen mit Freunden, Erfahrungen aus den Medien etc. als ihre individuellen Konstruktionen zu einem Thema in den Unterrichtsprozess bewusst oder unbewusst mit ein. Lernprozesse sind damit individuell und von der Lehrkraft nur sehr bedingt steuerbar, denn Lernen ist letztlich ein Konstruktionsprozess im Gehirn des Menschen.
Durch die Auseinandersetzung mit neuen Gegenständen, mit Problemstellungen und mit Wissen ebenso wie mit Alltagsbegegnungen, Medien und in Gesprächen werden die bisherigen Konstruktionen des Individuums zunächst „perturbiert“, in Frage gestellt. Es folgt ein Prozess der „Äquilibrierung“ zwischen den neuen Eindrücken und den alten Schemata des Denkens, der dann zu neuen „viablen Theorien“ führt, mit deren Hilfe Probleme und konkrete Anforderungen bewältigt werden können.

Was heißt dies aber für den Unterricht? Wie muss ein konstruktivistisch fundierter Unterricht konkret aussehen?
Zunächst einmal ist der Lernprozess individuell [51] und geschieht (unabhängig von der gewählten Sozialform und Methode) in einer Auseinandersetzung des Einzelnen mit den Lerngegenständen und weiteren – auch außerschulischen - Eindrücken. Die Lehrkraft muss daher bei der Vorbereitung des Unterrichts die einzelnen Schülerinnen und Schüler, ihre Vorerfahrungen, ihre Fertigkeiten und ihr Vorwissen im Blick haben, um einen möglichst individualisierten und binnendifferenzierten Unterricht gestalten zu können [52] , der aufgrund der individuellen Lernprozesse aller Lernerinnen und Lerner einer Klasse nicht vollständig planbar [53] sein kann, sondern immer offen sein muss - offen für die Bedürfnisse der jeweiligen Schülerinnen und Schüler.
Lernen ist immer ein aktiver Prozess, keine reine Präsentation von Wissen durch die Lehrkraft [54] , sondern eine aktive Auseinandersetzung jedes einzelnen Schülers mit den Lerngegenständen und mit den individuellen Konstruktionen anderer Lerner. Dieser aktive Prozess des Individuums ist – bei aller Lenkung durch die Lehrkraft - immer selbstgesteuert, und dies selbst in einem „Frontalunterricht“, der einen einheitlichen Lernweg für die ganze Gruppe suggeriert – schon allein durch den bewussten oder auch unbewussten Umgang der Lerner mit den ihnen dargebotenen Lerninhalten .[55] Diese Selbststeuerung und Individualität des Lernprozess zeigt sich auch in der Verantwortung, die die Schülerinnen und Schüler für ihr eigenes Lernen übernehmen. Methoden der Meta-Kognition wie z.B. ein Advance Organizer und die Evaluation des eigenen Lernprozesses spielen hierbei eine wichtige Rolle. [56]
Der Lernvorgang geschieht jedoch nicht nur rein individuell, sondern immer auch in sozialen Bezügen, in Interaktion mit der Lehrkraft und mit den Mitschülerinnen und Mitschülern innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers, in der Familie, im sozialen Umfeld sowie in der Auseinandersetzung mit den Medien. [57] Damit ist er auch ein sozialer Prozess. [58]
Lernen ist nicht rein kognitiv, sondern in den Lernprozess, also in den individuellen Konstruktionsprozess von Wissen, fließen immer auch persönliche Erfahrungen, die Beziehung zur Lehrkraft, Gefühle, Sympathien und Antipathien ein. Lernen geschieht wesentlich auch an und aus Erfahrungen [59] und ist damit auch ein emotionaler, personaler und sozialer Prozess .[60] Im Religionsunterricht muss daher immer auch die Ebene des emotionalen Zugangs und der Erfahrungen mit berührt werden – ein rein kognitiv vermittelter Stoff führt vielleicht zu (in Grundzügen) reproduzierbarem Wissen, nicht aber zu einer ganzheitlichen Aneignung [61] , die – wie oben dargestellt – wesentlicher Bestandteil einer religiöse Kompetenz ist.
Ferner geschieht Lernen nicht durch die Vermittlung von trägem Stoff, sondern es muss einen Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler haben. Gelernt wird , was einen Bezug zumVorwissen hat [62] , was in die vorhandenen individuellen Konstruktionen in irgendeiner Form eingefügt werden kann [63] bzw. diese perturbiert, nicht aber, wozu die Lerner keinerlei Zugang haben, oder das, was ihnen sowohl kognitiv als auch affektiv vollkommen fremd ist. Damit ist der Lernprozess situativ [64] und kontextuell [65] , d.h. er geschieht immer in einer konkreten Interaktion zwischen Lernern, Lehrkraft und Lernsituation. Er sollte daher nach Möglichkeit bei der Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler ansetzen [66] und die Lernausgangslage, d.h. die Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler aus ihrer Sozialisation, früherem Unterricht und außerschulischen Lernerfahrungen als Ausgangspunkt des Unterrichts systematisch erheben .[67]
Die behandelten Inhalte sind weiterhin für den Religionsunterricht konstitutiv, sie sollten allerdings so reduziert, elementarisiert und aufbereitet werden, dass sie die individuellen Lernprozesse anregen können. [68] Sie sind das Medium, an dem Lernprozesse stattfinden [69] , das Ziel des Unterrichts ist die individuelle Aneignung und Verarbeitung von Inhalten, nicht mehr die Reproduzierbarkeit einer großen Stofffülle. Somit sollte bei der Vermittlung von Unterrichtsinhalten weniger das „harte Faktenwissen“ (z.B. durch das Lesen eines beschreibenden Textes zu den Fünf Säulen des Islam) im Vordergrund stehen, sondern es muss im Unterricht auch Platz für das individuelle „Einholen“ des Gelernten sein, für die Reflexion über das Sachwissen [70] (z.B. in einer kreativen Auseinandersetzung mit gelebter Religiosität im Alltag im Islam ).
In einer konstruktivistischen Didaktik ändert sich auch die Rolle der Lehrkraft: Einerseits ist ihre Aufgabe nicht mehr primär, den Stoff optimal zu vermitteln, sondern sie ist mehr Lernbegleiterin, ermöglicht individuelle Lernvorgänge der Schülerinnen und Schüler. Konkret kann dies zum Beispiel durch so genannte „Lernlandschaften“ oder „Lernwelten“ [71] geschehen, die unterschiedlichste Materialien bereitstellen und damit individuelle Lernwege ermöglichen. [72] Zum anderen ist der Lehrer/ die Lehrerin aber auch von hoher emotionaler Bedeutung für den Lernprozess, denn durch die Beziehung zu ihm/ ihr kann auch ein emotionaler Kontakt mit Lerninhalten entstehen – gerade im Fach Religion ist sie damit Lehrer/in und Modell für eine gelebte Religiosität zugleich. [73] Unterricht ist somit als ein gemeinsamer Prozess und als Beziehungsgeschehen zwischen Schülerinnen und Schülern und der jeweiligen Lehrkraft zu verstehen. [74]
Die Ergebnisse des Unterrichts können nicht mehr allein die Reproduktion, der Transfer und die Anwendung der vermittelten Inhalte sein (auch wenn die Bedeutung von Wissen für die Kompetenzentwicklung nicht zu unterschätzen ist (s.u.)), sondern Ziel jeglichen Unterrichts ist die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, sich in der Welt, die ihnen begegnet, zurecht zu finden. [75] In der konkreten Unterrichtspraxis bedeutet dies, dass die die Schülerinnen und Schüler anhand der Auseinandersetzung mit einer Problematik und mit entsprechenden Lerngegenständen viable Theorien entwickeln, die nicht auf richtig und falsch, sondern auf die Viabilität (= ihre Fähigkeit, auf der Basis von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen eine Lösung für die angegebene Problemsituation zu bieten) zu überprüfen sind. Lernergebnisse sind somit – abgesehen von Unterrichtsprozessen, die einen klaren Wissenszuwachs zum Ziel haben (z.B. Kenntnis der 5 Säulen des Islams), nicht klar vorherzusehen und zu planen, sondern die viablen Theorien werden auf der Basis des erworbenen Wissens entwickelt (z.B. „Welche Formen gelebter Religiosität im Alltag gibt es im Islam?“). [76]


[46] Vgl. Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 12, Rupp, Lernen und Differenzierung, S. 5.
[47] Zu den unterschiedlichen Formen von Konstruktivismus. vgl. Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 13
[48] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 52-53.
[49] Vgl. Hans Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 15.
[50] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 52.
[51] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 52.
[52] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 53.
[53] Vgl. Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 17.
[54] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 56.
[55] Vgl. Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 17.
[56] Vgl. Sitzberger, Konstruktivistisch Unterricht planen, S. 86.
[57] Vgl. Rupp, Lernen und Differenzierung, S. 5.
[58] Vgl. Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 15.
[59] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 61
[60] Vgl. Vortrag Rupp, 17.9.2010, Stuttgart, vgl. Sitzberger, Konstruktivistisch Unterricht planen, S. 88.
[61] Vgl. performativer Religionsunterricht, der davon ausgeht, dass der Religionsunterricht Erfahrungsräume bieten muss, da sich Religion nicht rein theoretisch lernen lässt.
[62] Vgl. Rupp, Nachhaltiges Lernen in lernpsychologischer Perspektive, Zusammenfassung von Seel, Psychologie des Lernens, Moodle, ev. ZPG, S. 2.
[63] Vgl. Sitzberger, Konstruktivistisch Unterricht planen, S. 88
[64] Vgl. Reich, Konstruktivistische Didaktik, S. 24.
[65] Vgl. Mendl, Einführung in den pädagogischen Konstruktivismus, S. 17.
[66] Hierbei ist zu betonen, dass „Lebenswelt“ nicht zu eng zu fassen ist. Es darf nicht nur das von Interesse für den Unterricht sein, was die Schülerinnen und Schüler in ihrem Umfeld unmittelbar erleben, sondern alle Situationen, die für sie von Interesse sein könnten, Berichte aus den Medien, die sie – ihrem jeweiligen Alter entsprechend interessieren können, ebenso wie Politik, Gesellschaft etc.
[67] Vgl. Fischer, M. , Die Lernausgangslage im kompetenzorientierten Religionsunterricht, S. 1-4.
[68] Vgl. Sitzberger, Konstruktivistisch Unterricht planen, S. 89. Dort findet man auch Leitfragen zur Planung des Unterrichts und zur Stoffauswahl.
[69] Vgl. Berger u.a.: Handreichung zur Unterstützung eines kompetenzorientierten katholischen Religionsunterrichts, S. 31.
[70] Vgl. Eggerl, „Alles bleibt anders“. S. 58.
[71] Vgl. Rupp, Vortrag vom 18.2.2011, S. 1.
[72] Vgl. Sitzberger, Konstruktivistisch Unterricht planen, S. 91.
[73] Vgl. Rupp, Der Religionslehrer als exemplarischer Repräsentant christlicher Religion, S. 68.
[74] Vgl. Reich, Konstruktivistische Didaktik, S. 28.
[75] Vgl. Sitzberger, Konstruktivistisch Unterricht planen, S. 85.
[76] Diese Konzeption von Unterrichtsergebnissen hat weitreichende didaktische Konsequenzen. So können zum Beispiel eindeutige Deutungen (z.B. von Bibelstellen, Bildern oder Zeugnissen der Tradition) nur in Ausnahmen gemacht werden. Ein Merktext als gemeinsame Ergebnissicherung für alle kann je nach Unterrichtsthema sinnvoll sein (z.B. zum Aufbau der Bibel in Kl. 5/6) oder aber den Prinzipien des Konstruktivismus zuwiderlaufen (z.B. bei einer Stunde zum Thema: „Welche Not spricht mich an?“). Ebenso können Zusammenfassungen des Gelernten (je nach Thema) durch die Lehrkraft problematisch sein, da die individuellen Konstruktionen der Schülerinnen und Schüler hierbei nicht oder nur ansatzweise
berücksichtigt werden.

 

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