Kritische Anfragen
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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Bei allen Vorzügen, die das Modell von Gabriele Obst aufweist, hat dieser Ansatz auch Schwachpunkte, die im Folgenden diskutiert werden sollen:
Reale Anforderungssituationen und Lerngegenstände
Plant man den Unterricht ausschließlich ausgehend von realen Anforderungssituationen aus der
Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, reduzieren sich die Inhalte auf das, was „für das Lebender Schülerinnen und Schüler relevant“ ist. Inhalte, die für sie nicht relevant sind (oder scheinen),
müssen nicht mehr erarbeitet werden, Fragen oder Probleme, die ihnen vielleicht irgendwann in
der Zukunft begegnen, im Moment aber noch nicht von Bedeutung scheinen, könnten ebenfalls
herausfallen.
Gerade in einer säkularen Gesellschaft, in der die Bedeutung von Religion und christlichem Glauben
für die Schülerinnen und Schüler in ihrem heutigen Lebenskontext und auch in der persönlichen
Zukunft eher gering ist, dürften daher viele Inhalte, die aus der Sicht des christlichen Glaubens
und der Theologie unverzichtbar sind, unbehandelt bleiben. Die Folge könnte sein, dass aus
diesem mangelnden Wissen auch ein Mangel an Interesse entsteht, denn für Interesse und Sensibilität
für eine Thematik bedarf es eines Grundverständnisses.
[131]
Letztlich schimmert hier die Debatte um materiale und formale Bildungstheorien durch: Sind nur
diejenigen Inhalte sinnvoll, die zur Menschenbildung der Schülerinnen und Schüler beitragen und
ihnen helfen, gegenwärtige oder zukünftige Herausforderungen zu bewältigen, oder gibt es Inhalte,
die zu einem klassischen Wissenskanon gehören und damit für den Bildungsprozess relevant sind,
selbst wenn sie – für die Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Jahrgangsstufe – nur einen
schwachen Bezug zum eigenen Leben aufweisen?
Die einseitige Fixierung auf die Anforderungssituationen birgt also letztlich das Risiko, dass der
Unterricht nur noch von der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler her geplant wird. Damit entspräche
er in wesentlichen Zügen dem problemorientierten Unterricht, dessen Schwachpunkte ja
hinlänglich diskutiert worden sind. Er muss also sowohl durch Elemente des Wissens (Kerncurriculum
nach Klieme) wie auch des performativen Religionsunterrichts ergänzt werden, um auch die
Bewältigung zukünftiger, aus der momentanen Interessenslage der Schülerinnen und Schüler nicht
vorhersehbarer - Anforderungssituationen zu gewährleisten.
Die Suche nach Anforderungssituationen
Eine typische aktuelle Anforderungssituation ergab sich nach den Anschlägen auf das World Trade
Center im September 2001. In den folgenden Tagen stellten sich wohl alle Schülerinnen und Schüler
im Unterricht und darüber hinaus die Frage, ob der Islam eine Religion des Terrorismus sei, ob
jeder Muslim ein Terrorist sei. Das Erdbeben in Japan im März 2011 warf die Frage auf, woher
solches Leid kommt und ob Gott Leid nicht verhindern kann oder will. Aus solchen Ereignissen
ergeben sich hochmotivierende Unterrichtssequenzen, nicht nur im Religionsunterricht.
Nun ergeben sich solche hochaktuelle und für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbare Anforderungssituationen
(zum Glück!) äußerst selten, und der Regelfall dürfte eher die mühsame
Suche nach Situationen oder kurzen Erlebnissen sein, die sich als Ausgangspunkt einer Unterrichtssequenz
eignen.
Ferner lässt sich - wie schon oben dargestellt - nicht jeder Inhalt, der auf Dauer für die Schülerinnen
und Schüler relevant sein kann oder der auch nur zu einem sinnvollen Bildungskanon gehört,
mit einer realen Anforderungssituation aus ihrer Lebenswelt in Verbindung bringen. Lehrerinnen
und Lehrer mögen nun in die Versuchung kommen zu versuchen, zu jedem Unterrichtsinhalt einen
Lebensweltbezug zu finden, auch wenn dieser eigentlich nicht mehr gegeben ist. In Extremfall
würde dann jede Stunde mit dem Satz beginnen: „Stellt euch mal vor …“. Letztlich würden dann
die Anforderungssituationen aus den Standards wieder abgeleitet und als fiktive Situationen von
der Lehrkraft konstruiert.
Abgesehen von der unfreiwilligen Komik dieses didaktischen Prinzips widerspricht es auch zutiefst
den Grundlagen des Bildungsplans 2004: die Schülerinnen und Schüler sind hier nicht Subjekte
ihres Lernprozesses, sondern Adressaten eines Lernarrangements, das ihnen lediglich eine Schülerorientierung
suggeriert, die aber letztlich Teil eines von der Lehrkraft geplanten Prozesses ist.
Die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler könnte somit zur „Abschussrampe“ für Lernprozesse
dienen, deren Inhalte eigentlich von der Lehrkraft (oder einem verbindlichen Wissenskanon) schon
festgelegt wurden.
[132]
Ein weiteres Problem dürfte sich aus der Komplexität lebensnaher oder realer Anforderungssituationen
ergeben. Anforderungssituationen aus den Medien oder dem aktuellen Tagesgeschehen
(z.B. der Konflikt um die Mohammedkarikaturen 2006 oder der Missbrauchskandal 2010) sind
hochkomplex und erfordern eine sehr hohe Abstraktionsfähigkeit, die in der Kursstufe sicher gegeben
ist, in den unteren Jahrgangsstufen jedoch fehlt. So dürfte es vor allem für die unteren Klassen
des Gymnasiums schwierig sein, authentische Anforderungssituationen zu finden.
Einen interessanten Ansatz liefert hier Helbling. Anders als in dem Werk von Gabriele Obst bittet
er junge Menschen in Interviews, Situationen zu benennen, die sie als religiöse Herausforderungen
erlebt haben. Aus diesen Erfahrungen, die persönlich-existentieller (z.B. die Erfahrung des
Todes eines Menschen oder eine Katastrophe) oder gesellschaftlicher Natur (Zusammenleben mit
Muslimen) sein können oder auch durch Anfragen an das eigene Selbstverständnis durch Ausgrenzung
(z.B. aufgrund von Homosexualität in der katholischen Kirche) entstehen, können sich
dann Lernprozesse entwickeln.
[133]
Dieser Ansatz ist subjekt- und damit schülerorientiert und damit sicher für die Schülerinnen und
Schüler in hohem Maße motivierend. Allerdings bemerkt Helbling selbst, dass er sich – ähnlich wie
das Modell von Obst - kaum als alleiniges Prinzip für den Religionsunterricht eignet, da sich auch
hier die Unterrichtsinhalte auf das beschränken würden, was für die Schülerinnen und Schüler eine
aktuelle Herausforderung darstellt. Gleichzeitig kann dieser Zugang eine rein fachwissenschaftliche
Vorgehensweise korrigieren und ergänzen.
[134]
[131]
Vgl. Diskussion in der ZPG katholische Religion, 01.02.2011.
[132]
Vgl. Berger u.a.: Handreichung zur Unterstützung eines kompetenzorientierten katholischen Religionsunterrichts, S.3.2.
[133]
Vgl. Helbling, Wo bleibt das Subjekt in der Kompetenzorientierung, S. 292-293.
[134]
Vgl. Helbling, Wo bleibt das Subjekt in der Kompetenzorientierung, S. 294.
Was ist kompetenzorientierter Religionsunterricht?: Herunterladen [pdf] [650 KB]