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Um­gang mit Vor­ur­tei­len

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


Die Is­lam­wis­sen­schaft­le­rin Lamya Kador, ge­bo­ren 1978 in Ahlen/West­fah­len, war eine der ers­ten Leh­re­rin­nen für is­la­mi­schen Re­li­gi­ons­un­ter­richt in Deutsch­land. Sie be­rich­tet in ihrem Buch „Mus­li­misch – weib­lich –deutsch! Mein Weg zu einem zeit­ge­mä­ßen Islam“, wie sie eine Zeit lang – um für eine er­krank­te christ­li­che Re­li­gi­ons­leh­re­rin aus­zu­hel­fen – christ­li­che und mus­li­mi­sche Schü­le­rin­nen und Schü­ler der 9. Klas­se ge­mein­sam un­ter­rich­tet hat. In einer Un­ter­richts­stun­de, bei der auch eine an ihrem Un­ter­richt in­ter­es­sier­te Jour­na­lis­tin an­we­send war, zeig­te sie zum Thema „re­li­giö­se Vor­ur­tei­le“ einen is­lam­kri­ti­schen Film, um im An­schluss mit der Klas­se dar­über zu spre­chen. Ei­ni­ge Schü­ler sahen ihre Vor­ur­tei­le durch den Film be­stä­tigt. Einer von ihnen sagte zur Leh­re­rin: „Frau Kad­dor, ihr Aus­län­der nehmt uns Deut­schen die Ar­beits­plät­ze weg und bringt an­de­re Men­schen um.“

Ich war be­reits ei­ni­ges ge­wohnt, aber dass mich ein Schü­ler offen mit blan­kem Ras­sis­mus kon­fron­tier­te, war mir neu. An­de­rer­seits be­wun­der­te ich den Mut von An­dre­as. Er gilt eher als ru­hi­ger Typ, der nicht auf Kon­fron­ta­ti­on aus ist. Schließ­lich trau­te er sich das aus­zu­spre­chen, was zu­min­dest noch zwei wei­te­re Schü­ler ge­nau­so ge­se­hen hat­ten. Ich saß auf dem Pult vor der Klas­se und über­leg­te eine Weile, bevor ich ant­wor­te­te. Die Jour­na­lis­tin schrieb flei­ßig mit. Ein be­drü­cken­des und her­aus­for­dern­des Schwei­gen füll­te den Raum. Alle schau­ten mich auf ein­mal an, weil ich auf den Boden starr­te und nichts sagte. Die Klas­se be­fürch­te­te, dass ich laut­stark An­dre­as aus dem Un­ter­richt ver­ban­nen und viel­leicht seine El­tern zu einem Ge­spräch zi­tie­ren würde. Nach einer Weile schau­te ich auf, lä­chel­te An­dre­as an und frag­te: „Nehme ich Dir Dei­nen Ar­beits­platz weg?“ Er ent­geg­ne­te so­fort: „Nein, Sie nicht!“ Ich setz­te nach: „Ver­ste­he, mein aus­län­di­scher Vater nimmt Dir, einem Deut­schen, den Ar­beits­platz weg?“ Nein, auch nicht un­be­dingt mein Vater, „aber die an­de­ren Aus­län­der eben“. Die aus län­di­schen Schü­ler for­der­ten mich er­staun­li­cher­wei­se nicht auf, ihn raus­zu­wer­fen oder end­lich etwas gegen ihn zu un­ter­neh­men. Sie be­ob­ach­te­ten mich ein­fach nur und ver­folg­ten die Dis­kus­si­on – schließ­lich waren sie es ge­wohnt, dass in mei­nem Un­ter­richt alles aus­dis­ku­tiert wer­den muss. Ich frag­te An­dre­as, wer denn sei­ner Mei­nung nach Aus­län­der sei. Seine Mit­schü­le­rin Sara, die or­tho­do­xe Chris­tin ist und mit ihrer Fa­mi­lie im Alter von sechs Jah­ren aus Äthio­pi­en ein­ge­wan­dert war? Oder Murat, der so wie er selbst hier in Dins­la­ken ge­bo­ren wor­den war? Murat, Sara und ich waren auf die Ant­wort ge­spannt. An­dre­as fühl­te sich mitt­ler­wei­le un­wohl in sei­ner Haut und drucks­te herum. Er wuss­te nicht recht, was er ant­wor­ten soll­te. Schließ­lich rang er un­si­cher nach Luft und ant­wor­te­te mit einer Frage: „Alle, die nicht hier ge­bo­ren wur­den, oder?“ Bei der Ant­wort schmun­zel­te zum ers­ten Mal auch die Jour­na­lis­tin.
Ich ließ von An­dre­as ab. Ich be­merk­te, dass er vor­sich­ti­ger wurde, dass of­fen­bar ein Denk­pro­zess bei ihm ein­ge­setzt hatte, und den woll­te ich auf kei­nen Fall stö­ren. Au­ßer­dem durf­te ich ihn mit mei­ner Ar­gu­men­ta­ti­on nicht über­for­dern. Also frag­te ich die ganze Klas­se, ob man nicht deutsch sei, wenn man Deutsch spricht, viel­leicht in Deutsch­land ge­bo­ren ist und, viel wich­ti­ger, sich zu Deutsch­land be­kennt? Und ob ich in ihren Augen Deut sche sei?
Um die ge­spann­te Stim­mung im Klas­sen­raum nicht zu über­deh­nen, ver­zich­te­te ich dar­auf, die Fra­gen münd­lich zu dis­ku­tie­ren. Alle Schü­ler soll­ten sich eine Ant­wort über­le­gen und mir in der nächs­ten Stun­de ihre Mei­nung mit­tei­len – wenn sie woll­ten.

(Aus: Lamya Kad­dor, Mus­li­misch - weib­lich -deutsch! Mein Weg zu einem zeit­ge­mä­ßen Islam, Mün­chen, © Ver­lag C.H. Beck, 2010, S. 125-126.)

 

Um­gang mit Vor­ur­tei­len: Her­un­ter­la­den [doc] [35 KB]

Um­gang mit Vor­ur­tei­len: Her­un­ter­la­den [pdf] [63 KB]