Expertenbefragung
Soziale Ungleichheit – Armut:
Expertenbefragung mit dem Sprecher der Rabbinerkonferenz Deutschlands und Landesrabbiner von Württemberg, Dr. Joel Berger
Landesrabbiner Dr. Joel Berger im Gespräch mit der Schülerin Kerstin Rupp, und den Schülern Andreas Oehling und Thomas Merklinger (v. l.)
Schüler: Dürfen wir dieses Gespräch mit einem Satz beginnen, der uns von dem Juden Jesus überliefert ist, er soll gesagt haben, dass es für ein Kamel einfacher sei, durch ein Nadelöhr zu kommen als für einen Reichen in den Himmel. Ist dies ein jüdischer Gedanke? (Ist dieser Satz so zu verstehen, dass es für Arme leichter ist, ein gottgefälliges Leben zu führen als für Reiche, wie dies z. B. manche Mönchsorden im christlichen Abendland verstanden haben?)
Dr. Berger: Bei diesem jesuanischen Gleichnis handelt es sich um einen Übersetzungsfehler. Es geht nicht um ein Kamel, sondern um ein Schiffstau. Und da stimmt nämlich das Bild von Jesus. Es ist einfacher, ein Schiffstau durch ein Nadelöhr zu ziehen, als für einen Reichen in den Himmel zu kommen. Dahinter steckt die jüdische Überlegung - es ist ein jüdischer Gedanke - dass reiche Leute oft versteinerte Herzen haben, dass sie nicht spendenfreudig geben, freudig, offen und aufgeschlossen gegenüber Armen sind. Wobei diese Verallgemeinerung auch falsche Züge annehmen könnte, denn immer wieder haben reiche Leute auch sehr viel gegeben, sonst wäre im jüdischen Bereich der Typ des „Schnorrers“ nicht entstanden. Der „Schnorrer“ ist nicht der christliche Bettler, der vor der Kirche steht und um Gnade und eine Spende bittet, der „Schnorrer“, der jüdische Almoseneintreiber, treibt keine Almosen ein, er kommt und verlangt, weil es ihm laut biblischer jüdischer Einstellung zusteht. Er kommt und verlangt, weil er weiß, dass der andere, der Reichere auf ihn angewiesen ist, weil er geben muss, er muss die Unebenheiten der Welt ausgleichen, daher muss er spenden. Der Reiche soll ihm sogar dankbar sein, dass er kommt und ihm die Möglichkeit gibt, seine Pflichten zu erfüllen. Wenn der „Schnorrer“ nämlich nicht kommen würde, was würde der andere machen, wie würde er seine biblisch-jüdischen Aufgaben, seine gesetzlichen Aufgaben erfüllen? Wie würde er die Möglichkeit wahrnehmen, Armut zu lindern, wenn der „Schnorrer“ nicht kommen würde? Ohne diese Einstellung von dem selbstbewussten „Schnorrer“, von dem verlangenden „Schnorrer“, der auf seine Rechte besteht.
Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, um dies zu verdeutlichen?
Ein „Schnorrer“ kommt zu Rothschild - Rothschild ist ein Prototyp des Reichen - wohlgemerkt, dass wir die Relationen sehen, es gab einen einzigen Rothschild in der Geschichte und Millionen von Armen. Für die christliche Welt war immer Rothschild der Prototyp des reichen Juden (über die Vorurteile der christlichen Welt gäbe es einiges zu sagen). Also zu Rothschild kommt der „Schnorrer“. Rothschild, wie es sich gehört, gibt ihm eine ansehnliche Summe: Der „Schnorrer“ geht weg und setzt sich im ersten Restaurant an einen Fenstertisch, bestellt sich Lachs und speist, wie es sich gehört. Herr Rothschild geht mittags direkt nach Hause und sieht den „Schnorrer“ da sitzen und Lachs essen. Er geht hinein und sagt: „Sie sind aber ein unverschämter Mensch!“ Der „Schnorrer“ antwortet ihm: „Wieso, Herr Baron“ - Rothschild war geadelt – „wieso“ fragt er, „wenn ich kein Geld habe, kann ich keinen Lachs essen, wenn ich Geld habe, darf ich keinen Lachs essen. Also wann soll ich Lachs essen?“
Also das ist die jüdische Einstellung zu der Frage der Spendenfreudigkeit.
Schüler: Gibt es in den Schriften des Judentums überhaupt Aussagen über soziale Ungleichheit? Wird über Reichtum und wie er verwendet werden sollte, geschrieben?
Gibt es eine Verpflichtung für Reiche, Armen zu helfen?
Dr. Berger: Darf ich Sie auf das 5. Buch Mose hinweisen - es gibt selbstverständlich viele andere Stellen, aber hier haben wir es forciert und die ganze Problematik ist im 15. Kapitel des 5. Mose-Buches zusammengefasst. Hier ist eine wesentliche Aussage zu lesen. Sie lautet: „Es soll überhaupt kein Armer unter euch sein; denn der HERR wird dich segnen in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, wenn du nur der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchst und alle diese Gebote hältst, die ich dir heute gebiete, dass du danach handelst! Denn der HERR, dein Gott wird dich segnen, wie er dir zugesagt hat. Dann wirst du vielen Völkern leihen, doch du wirst von niemand borgen, du wirst über viele Völker herrschen, doch über dich wird niemand herrschen. Wenn einer deiner Brüder arm ist in irgendeiner Stadt im Lande, das der HERR, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder, sondern sollst sie ihm auftun und ihm leihen, so viel er Mangel hat. Hüte dich, dass nicht in deinem Herzen ein arglistiger Gedanke aufsteige, dass du sprichst: Es naht das siebente Jahr, das Erlassjahr -, und dass du deinen armen Bruder nicht unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst; sonst wird er wider dich zu dem HERRN rufen, und bei dir wird Sünde sein. Sondern du sollst ihm geben, und dein Herz soll sich nicht verdrießen lassen, dass du ihm gibst; denn dafür wird dich der HERR, dein Gott, segnen in allen deinen Werken und in allem, was du unternimmst. Es werden allezeit Arme sein im Lande, darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder der bedrängt und arm ist in deinem Lande.“ Vers 4-11
Durch diese Verse und die Auslegung und die Reihe der Kommentare durch die Literatur der Pharisäer, wie die Christen sie nennen, also durch die rabbinische Literatur, durch den Talmud, ist eine wichtige Literatur entstanden, und von daher ist es in jüdischen Gemeinden bis zum heutigen Tage ein Usus, dass wer kommt und bittet, dem wird auch gegeben, man kann niemanden wegschicken. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Wir haben keine „Vesperkirche“ und keine „Schwäbische Tafel“, aber in der letzten Zeit, und das ist die Praxis, das ist keine Rede, in der letzten Zeit sind allein in Stuttgart in unserer Gemeinde über 1000 neue Gemeindemitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen, sie können sich das Elend und die Armut vorstellen. Sie hatten nichts. Und unsere Gemeinde hat alle Ressourcen und Reserven, alles, was wir für die Zukunft zurückgelegt haben, flüssig gemacht, um diesen Leuten zu helfen, damit sie wirtschaftlich, geistig und auch sonst integriert werden. Aus diesem Grund haben wir beispielsweise vier Lehrer angestellt, was Lehrer kosten, können Sie sich vorstellen, was die Einrichtung kostet, können sie sich auch vorstellen. Wir haben extra eine Sozialabteilung eingerichtet, um den Leuten helfen zu können. Hier kommt jeder herein, ohne ein Wort des Dankes sagen zu müssen, weil er weiß, dass ihm die Hilfe zusteht. Die jüdischen Gemeinden haben drei Säulen, eine davon ist die Mildtätigkeit für soziale Gerechtigkeit. Der Ausdruck „Almosen“, den Christen verwenden, ist auch eine falsche Übersetzung. Jesus hat niemals in den Evangelien, wenn er das eigene Wort gesprochen hat, über Almosen gesprochen. Almosen gibt es im Hebräischen nicht. Im Hebräischen nennt man das „zedaka“, und das heißt Gerechtigkeit üben. Das heißt, du bist verpflichtet, die Ungleichheiten der Welt zu nivellieren, und deshalb kann man nie genug geben, weil es immer wieder Ungerechtigkeiten gibt.
Schüler: Kann Armut auch als Prüfung des Menschen durch Gott (oder den Satan, der allerdings von Gott die Erlaubnis erhält) angesehen werden (z.B. Hiob)? Wie würden Sie dieses Gleichnis in heutiger Zeit interpretieren? (Was sollen wir daraus lernen?)
Dr. Berger: Armut könnte jederzeit als Prüfung des Menschen durch Gott empfunden werden. Aber das ist subjektiv. Diese Empfindung kann nur ein Individuum fühlen. Niemals kann ihm so etwas offiziell von einer Einrichtung, von einer Synagoge, von irgendeiner Gemeinde angeordnet werden. Das ist seine Empfindung, dass Gott ihn prüfen will. Die Pharisäer haben in ihren Schriften, (gemeint sind Rabbiner, die Christen haben sie Pharisäer genannt) an einer Stelle gesagt: „Halte dich an die Thora, halte dich an die Schriften in Armut, damit du eines Tages auch als reicher Mensch die Schrift halten kannst.“ Zu Satan: der Satan wurde im jüdischen Bereich niemals so ernst genommen oder als leibhaftig existierendes Wesen des Bösen angesehen. Im Hiobs-Buch, das sie hier in Klammern anführen, wurde lediglich mit dem Gedanken gespielt. Es stellt eine Parabel dar. Gott schließt eine Wette mit dem Satan ab. Ich habe niemals einen Juden getroffen, der das so ernst genommen hat. Diese Wette ist auch so eine Art Ouvertüre, Fabel, Literatur, eine Einleitung zum Hiobs-Buch, eine Art, sich vielleicht verständlich zu machen.
Schüler: Im Judentum gibt es das Sabbatjahr, in dem alle Schulden erlassen wurden. Ist dies als Gebot Gottes zu verstehen? Gab es diese Praxis in biblischen Zeiten, wäre sie Ihrer Ansicht nach in unserer Zeit heute überhaupt denkbar?
Was halten Sie von der Forderung einiger Entwicklungshilfeorganisationen, die bewusst auf die Tradition des Sabbatjahres im Judentum zurückgegriffen haben, den ärmsten Ländern im Jahr 2000 alle Schulden zu erlassen?
Dr. Berger: Sie meinen, ob in der Praxis die Gebote des „Schmittajahres“, also des Sabbatjahres, denkbar sind? Ich bitte Sie, unzählige religiöse Siedlungen, die hier zu Lande als orthodoxe Siedlungen verpönt und mit dem Teufel gleichgesetzt werden, wenn sie in den Medien weich geklopft werden, halten sich daran. Nur, wie gesagt, das ist kein Staatsgesetz, weil Christen, Araber und andere auch Besitztümer im Lande haben, die kann man nicht per jüdischem Gesetz, per Thora also, auf die Bibel verpflichten, dann würde die ganze Welt aufschreien, dass die Minderheiten vergewaltigt werden, noch mehr als heute, daher werden diese Minderheiten in ihrer Freiheit belassen. Aber jüdische Siedlungen tun es aus eigener Überzeugung, und jüdische Kibbuzim, also aus dem eigenen Lande, dem Westjordanland, oder wo auch immer, halten diese Gebote ein. Ich war neulich, im letzten Sabbatjahr, zufällig in Israel, und es hat mich überrascht, als ich in Jerusalem drei Männer mit einem Auto stehen sah, voll gepackt mit Kartoffeln und Orangen. Die drei – es waren markige Typen - gingen auf den Platz und fingen an, alles zu verteilen. Ich habe gefragt was hier los sei, und sie antworteten: „Was heißt, was ist hier los? Sie wissen nicht, dass es Schmittajahr ist - also Sabbatjahr?“ Das heißt, was von alleine gewachsen ist, wird in den richtigen Gesetzverhältnissen aufgehoben. Der Kibbuz verteilt, was gewachsen ist, weil er die Erträge im siebten Jahr nicht in seinem Besitz behalten will. Die Leute, die gerade da waren, bekamen die Ernte. Also anstatt „Vesperkirche“ oder „Schwäbische Tafel“ ist dies auch eine Antwort auf die Frage, wie aktuell heute diese Gesetze sein können. Es gibt nicht nur das Sabbatjahr, es gibt auch das Jobeljahr. Das heißt, dass alle 50 Jahre sämtliche Besitztümer zurückgegeben werden müssen. Dies steht im 3. Buch Mose 25.
Jetzt zu der Forderung: Ich bin dafür, dass im Jahre 2000 den ärmsten Ländern alle Schulden erlassen werden.
Schüler:
In der 2000-jährigen Geschichte der jüdischen Diaspora gab
es Pogrome, Ausgrenzungen, Vertreibungen. Oft konnten Einzelne nur das nackte
Leben retten und waren auf die Unterstützung und Solidarität ihrer Glaubensgenossen
angewiesen. Hat diese geschichtliche Erfahrung das Judentum besonders – vielleicht
mehr als andere Völker – für soziale Belange sensibilisiert?
Erklärt sich daraus auch das besondere Engagement so vieler Juden (Lassalle,
Marx, Luxemburg), auf dem Gebiet der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts? Auch
in Stuttgart haben sich viele Juden sozial sehr engagiert, der Unternehmer Eduard
Pfeiffer hat hier die erste Sozialsiedlung gebaut, wofür er Ehrenbürger der
Stadt wurde.
Dr. Berger: Aus Stuttgarter Sicht müsste man neben Eduard Pfeiffer sicher auch Fritz Elsas und Otto Hirsch nennen.
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Ich glaube wohl, dass auch ohne Pogrome, Ausgrenzungen und Vertreibungen im Judentum schon immer galt - von den biblischen Büchern, von der Thora, von den Büchern Mose her - Solidarität als oberstes Gebot zu sehen und stets anderen zu helfen. Die geschichtliche Erfahrung hat das Judentum für diese Problematik nur in besonderem Maße geschärft und gestärkt, dies intensiver zu tun, und es kam noch dazu, dass aus Willkür gefangen genommene Glaubensbrüder und -schwestern aus der Gefangenschaft befreit werden mussten, und dafür hat eine jede Gemeinde immer freiwillig gespendet, um das Lösegeld aufzubringen. Die berühmteste Geschichte einer solchen Befreiung eines Gefangenen in unserer Region ist die Geschichte von Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg, den Kaiser Rudolf von Habsburg willkürlich gefangen nehmen ließ, um von den Juden Gelder zu erpressen, der Rabbi seinerseits hat verboten, ihn durch Zahlung zu befreien, und erst nach dem Tode - lange Zeit nach dem Tode - konnte ein Jude aus Frankfurt namens Alexander ben Salomo Wimpfen den Leichnam durch viel Geld freikaufen. Er wurde bis dahin in den Kasematten von Ensisheim aufbewahrt. Die einzige Bedingung Wimpfens war, dass er zu den Füßen des Rabbi, wenn er eines Tages sterben würde, ruhen wollte. So ist es auch zu sehen im Heiligen Sand, dem ältesten jüdischen Friedhof von Worms. Diese Beispiele haben selbstverständlich ein großes Echo im Judentum ausgelöst.
Das soziale Engagement von Lassalle und Luxemburg und vielen anderen, selbstverständlich fallen mir auch Eduard Bernstein und noch andere ein - Marx möchte ich nicht erwähnen, Marx ist schon in einer christlichen Familie geboren, d.h. Marx geht in die christliche Richtung. Bei uns bleiben dafür Trotzkij, Bucharin, Kamenew und andere russische Gesellschaftsveränderer, die allesamt von Stalin sauber umgebracht worden sind. Sie sind heutzutage vielleicht in diesem „Schwarzbuch des Kommunismus“ wieder zu finden. Aber zweifelsohne ist es richtig, dass das soziale Engagement im Judentum stets groß war, und zwar nicht nur bei Männern - sie haben, ausgenommen von Rosa Luxemburg, nur Männer genannt, aber wir haben auch mehrere Frauen, die sich für die soziale Problematik interessiert haben.
Schüler: Wenn man sich die Bilder von Roman Vishniac anschaut, bekommt man eine Vorstellung von der unglaublichen Armut, die oft im osteuropäischen Schtetl herrschte. Der Autor nennt die Ärmsten „Luftmenschen“ (weil sie nur von der Luft lebten). Kann man sagen, dass durch die Armut besonders ausgeprägte religiöse Formen wie der „Chassidismus“ entstanden sind? Welche Bedeutung hat diese Religionsform im heutigen jüdischen Leben?
Dr. Berger: Zur Richtigstellung: ,,Chassidismus" ist die letzte große Aufklärungsbewegung im Judentum in Europa, besser gesagt im Osten Europas. Sie müssen die Situation im 17. Jahrhundert bedenken. Nach dem Chmel´nickij-Aufstand von 1648 kam es zu großen Pogromen, bei denen unzählige Juden ermordet worden sind und viele aus Russland, der Ukraine, Polen, Litauen, Lettland, usw. flüchten mussten. Die Gemeinden blieben dort meist ohne geistige Führung zurück. Da entstand sozusagen der ,,Chassidismus" durch Lehrer ohne großes talmudisches Wissen aus zweierlei biblischen und talmudischen Aussagen. Die erste Aussage war aus dem Psalm 100: „Dienet dem Herrn mit Freuden“. Dazu gehört das Trinken von Schnaps - Wein gab es dort sicherlich nicht - und Tanzen, Gesang, usw. Die ganze Klezmer-Musik heutzutage verdankt ihren Ursprung diesem Zustand. Die Fröhlichkeit ist auch ein Mittel zu dienen, nicht nur das Studium, nicht nur die strenge Frömmigkeit. Eine andere talmudische Aussage lautet: „Der barmherzige Gott benötigt das Herz“, gemeint ist also die Gefühlsbetontheit. Diese Grundsätze führten zum „Chassidismus“, zum Schtetl, zum Wiederaufblühen dieser armen Regionen. Sie haben Recht, ohne diese Bewegung wäre auf Grund der Armseligkeit dieser Städte die Situation trostlos gewesen. Durch den ,,Chassidismus" hat es einen neuen Inhalt gegeben. Besonders schön schreibt darüber Manès Sperber in seiner Autobiografie mit dem Titel „Die Wasserträger Gottes“, in der er seine Kindheit in Ostgalizien beschreibt.
Schüler: Bei der Gründung des Staates Israel spielten die Kibbuzim eine wichtige Rolle. Diese Idee verwirklichte die soziale Gleichheit ihrer Mitglieder (gleiches Einkommen aller). War diese Lebensform nur unter den Bedingungen der Staatsgründung wichtig, oder könnte diese Modell vorbildhaft auch für unsere Gesellschaft sein. Wird seine Bedeutung für die Zukunft des Staates Israel – Ihrer Ansicht nach – eher geringer werden?
Dr. Berger: Ich glaube nicht, dass dieses Modell vorbildhaft ist. Dennoch leben auch heute noch über 10% der Juden in Israel als Kibbuzim, und daher wird auch ihre Bedeutung für die Zukunft nicht geringer werden. Die Kibbuzim stellen eine führende Rolle dar, und meiner Ansicht nach werden sie dies auch noch weiterhin tun.
Schüler: In der letzen Zeit haben Medien häufig darüber berichtet, dass jüdisches Vermögen, das in der nationalsozialistischen Epoche z.B. auf Schweizer Banken transferiert wurde, nicht an die Eigentümer oder deren Erben zurückgegeben worden ist. Viele Verfolgte sind nicht ausreichend für ihre Verluste, die sie erlitten haben, entschädigt worden. Gibt es auch in Ihrer Gemeinde noch ungelöste Probleme?
Gibt es bei Ihnen Gemeindemitglieder, die heute vor allem deswegen arm sind, weil sie in jenen Zeiten alles verloren haben?
Dr. Berger: Sicherlich sind von der damaligen Zeit noch bleibende Schäden bei uns vorhanden, und es gibt noch Probleme, doch über einzelne Schicksale kann ich nichts sagen, da es so viele individuelle Erlebnisse gibt, und jeder hat es auch für sich selbst anders empfunden. Wir haben Gemeindemitglieder, die z.B. in Krakau oder anderswo Besitztümer hatten, die sie verloren haben; sie müssen heute deshalb bescheidener leben, als sie es ohne diesen Verlust könnten. Außerdem sind es nicht nur Schäden materieller Art, sondern vor allem auch psychischer Art. Viele sind heute arm an Verwandten, an Familie allgemein, da viele getötet wurden oder sie ihre Heimat verlassen mussten und sie nun weit entfernt voneinander leben. Materiell gesehen geht es ihnen nicht schlechter, und von Transfers in die Schweiz habe ich nichts mitbekommen, deshalb kann ich dazu auch keine Stellung nehmen. Die materielle Seite ist weniger das Problem. Viel entscheidender ist aber eine andere Seite. Diese „emotionale Armut“ zu ertragen ist viel schlimmer. Schauen Sie sich unsere Friedhöfe an. Aus der unmittelbaren Nachkriegszeit finden Sie viele Kindergräber. Auf Grund ihrer Leiden in den Konzentrationslagern waren Frauen oft nicht in der Lage, überlebensfähige Kinder zu bekommen. Auch die zweite und jetzt schon dritte Generation leidet noch unter diesen Folgen, sie haben keine Onkel und Tanten, keine Großeltern ...
Schüler: Welche Einrichtungen gibt es in Ihrer Gemeinde, die sich um die Belange der Hilfsbedürftigen, vor allem Armen, kümmern, und wie arbeiten diese, gibt es Probleme bei der Finanzierung der Aufgaben?
Dr. Berger: Unsere größte Aufgabe auf diesem Gebiet ist zur Zeit die Integration der neuen Gemeindemitglieder. Wir haben eine eigene Sozialabteilung eingerichtet, die sich um die Neuankömmlinge kümmert. Wir versuchen sie einzugliedern, ihnen eine Wohnung zu besorgen und ihnen Arbeit zu beschaffen. Das kostet natürlich eine Menge Geld, doch wir sind alle hilfsbereit, und so schaffen wir es, diese Abteilung zu erhalten und anderen, die unsere Hilfe benötigen, zu helfen.
Schüler: Herr Landesrabbiner, Sie haben sich heftig über eine christliche Gemeinschaft beschwert, die die Notlage von jüdischen Auswanderern aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ausnützen würde, um diese zu missionieren. Ist dies als moralischer Appell an die Betroffenen zu verstehen, oder haben Sie auch Forderungen an staatliche Stellen?
Dr. Berger: Ja, das war der EDI (Evangeliumsdienst für Israel). Der EDI versucht, die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die durch das Regime, das dort herrschte, nichts über ihre Religion wissen konnten, da sie von ihren jüdischen Wurzeln und der Tradition abgeschnitten waren, und somit keine Chance hatten, ihre eigentliche Religion kennen zu lernen, schon dort zu bekehren. Sie versprechen ihnen z.B. eine Wohnung, wenn sie ihnen beitreten. Wegen dieser Aussage von mir hat der EDI uns verklagt, doch in erster Instanz wurde das Verfahren schon wieder eingestellt. Das war keine Forderung von mir, ich wollte einfach nur darauf aufmerksam machen, was so alles angestellt wird, um Mitglieder zu werben.
Schüler: Welche Erwartungen haben Sie an die Zukunft? Wird man immer mit dieser Kluft zwischen Armen und Reichen (z.B. auch in Entwicklungsländern) leben müssen, oder gibt es Möglichkeiten, vielleicht sogar die Pflicht, etwas zu ändern?
Dr. Berger: Wir haben bestimmt die Pflicht, Armut durch unsere Hilfe zu lindern. Ich habe auch die Hoffnung, dass in der Zukunft eine Besserung eintreten wird, wie sich schon immer vieles verbessert hat. Ich verweise Sie noch einmal auf das 5. Buch Mose, Kapitel 15, Vers 11. Hier heißt es: „Es werden allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande.“
Schüler:
Herr Dr. Berger, wir bedanken uns für das Gespräch.