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Ex­per­ten­be­fra­gung


So­zia­le Un­gleich­heit – Armut:

Ex­per­ten­be­fra­gung mit dem Spre­cher der Rab­bi­ner­kon­fe­renz Deutsch­lands und Lan­des­rab­bi­ner von Würt­tem­berg, Dr. Joel Ber­ger

Expertenbefragung
 

Lan­des­rab­bi­ner Dr. Joel Ber­ger im Ge­spräch mit der Schü­le­rin Kers­tin Rupp, und den Schü­lern An­dre­as Oehling und Tho­mas Merklin­ger (v. l.)

Schü­ler: Dür­fen wir die­ses Ge­spräch mit einem Satz be­gin­nen, der uns von dem Juden Jesus über­lie­fert ist, er soll ge­sagt haben, dass es für ein Kamel ein­fa­cher sei, durch ein Na­del­öhr zu kom­men als für einen Rei­chen in den Him­mel. Ist dies ein jü­di­scher Ge­dan­ke? (Ist die­ser Satz so zu ver­ste­hen, dass es für Arme leich­ter ist, ein gott­ge­fäl­li­ges Leben zu füh­ren als für Rei­che, wie dies z. B. man­che Mönchs­or­den im christ­li­chen Abend­land ver­stan­den haben?)

Dr. Ber­ger: Bei die­sem je­sua­ni­schen Gleich­nis han­delt es sich um einen Über­set­zungs­feh­ler. Es geht nicht um ein Kamel, son­dern um ein Schiffs­tau. Und da stimmt näm­lich das Bild von Jesus. Es ist ein­fa­cher, ein Schiffs­tau durch ein Na­del­öhr zu zie­hen, als für einen Rei­chen in den Him­mel zu kom­men. Da­hin­ter steckt die jü­di­sche Über­le­gung - es ist ein jü­di­scher Ge­dan­ke - dass rei­che Leute oft ver­stei­ner­te Her­zen haben, dass sie nicht spen­den­freu­dig geben, freu­dig, offen und auf­ge­schlos­sen ge­gen­über Armen sind. Wobei diese Ver­all­ge­mei­ne­rung auch fal­sche Züge an­neh­men könn­te, denn immer wie­der haben rei­che Leute auch sehr viel ge­ge­ben, sonst wäre im jü­di­schen Be­reich der Typ des „Schnor­rers“ nicht ent­stan­den. Der „Schnor­rer“ ist nicht der christ­li­che Bett­ler, der vor der Kir­che steht und um Gnade und eine Spen­de bit­tet, der „Schnor­rer“, der jü­di­sche Al­mo­sen­ein­trei­ber, treibt keine Al­mo­sen ein, er kommt und ver­langt, weil es ihm laut bi­bli­scher jü­di­scher Ein­stel­lung zu­steht. Er kommt und ver­langt, weil er weiß, dass der an­de­re, der Rei­che­re auf ihn an­ge­wie­sen ist, weil er geben muss, er muss die Un­eben­hei­ten der Welt aus­glei­chen, daher muss er spen­den. Der Rei­che soll ihm sogar dank­bar sein, dass er kommt und ihm die Mög­lich­keit gibt, seine Pflich­ten zu er­fül­len. Wenn der „Schnor­rer“ näm­lich nicht kom­men würde, was würde der an­de­re ma­chen, wie würde er seine bi­blisch-jü­di­schen Auf­ga­ben, seine ge­setz­li­chen Auf­ga­ben er­fül­len? Wie würde er die Mög­lich­keit wahr­neh­men, Armut zu lin­dern, wenn der „Schnor­rer“ nicht kom­men würde? Ohne diese Ein­stel­lung von dem selbst­be­wuss­ten „Schnor­rer“, von dem ver­lan­gen­den „Schnor­rer“, der auf seine Rech­te be­steht.

Darf ich Ihnen eine Ge­schich­te er­zäh­len, um dies zu ver­deut­li­chen?

Ein „Schnor­rer“ kommt zu Roth­schild - Roth­schild ist ein Pro­to­typ des Rei­chen - wohl­ge­merkt, dass wir die Re­la­tio­nen sehen, es gab einen ein­zi­gen Roth­schild in der Ge­schich­te und Mil­lio­nen von Armen. Für die christ­li­che Welt war immer Roth­schild der Pro­to­typ des rei­chen Juden (über die Vor­ur­tei­le der christ­li­chen Welt gäbe es ei­ni­ges zu sagen). Also zu Roth­schild kommt der „Schnor­rer“. Roth­schild, wie es sich ge­hört, gibt ihm eine an­sehn­li­che Summe: Der „Schnor­rer“ geht weg und setzt sich im ers­ten Re­stau­rant an einen Fens­ter­tisch, be­stellt sich Lachs und speist, wie es sich ge­hört. Herr Roth­schild geht mit­tags di­rekt nach Hause und sieht den „Schnor­rer“ da sit­zen und Lachs essen. Er geht hin­ein und sagt: „Sie sind aber ein un­ver­schäm­ter Mensch!“ Der „Schnor­rer“ ant­wor­tet ihm: „Wieso, Herr Baron“ - Roth­schild war ge­adelt – „wieso“ fragt er, „wenn ich kein Geld habe, kann ich kei­nen Lachs essen, wenn ich Geld habe, darf ich kei­nen Lachs essen. Also wann soll ich Lachs essen?“

Also das ist die jü­di­sche Ein­stel­lung zu der Frage der Spen­den­freu­dig­keit.

Schü­ler: Gibt es in den Schrif­ten des Ju­den­tums über­haupt Aus­sa­gen über so­zia­le Un­gleich­heit? Wird über Reich­tum und wie er ver­wen­det wer­den soll­te, ge­schrie­ben?

Gibt es eine Ver­pflich­tung für Rei­che, Armen zu hel­fen?

Dr. Ber­ger: Darf ich Sie auf das 5. Buch Mose hin­wei­sen - es gibt selbst­ver­ständ­lich viele an­de­re Stel­len, aber hier haben wir es for­ciert und die ganze Pro­ble­ma­tik ist im 15. Ka­pi­tel des 5. Mose-Bu­ches zu­sam­men­ge­fasst. Hier ist eine we­sent­li­che Aus­sa­ge zu lesen. Sie lau­tet: „Es soll über­haupt kein Armer unter euch sein; denn der HERR wird dich seg­nen in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, wenn du nur der Stim­me des HERRN, dei­nes Got­tes, ge­horchst und alle diese Ge­bo­te hältst, die ich dir heute ge­bie­te, dass du da­nach han­delst! Denn der HERR, dein Gott wird dich seg­nen, wie er dir zu­ge­sagt hat. Dann wirst du vie­len Völ­kern lei­hen, doch du wirst von nie­mand bor­gen, du wirst über viele Völ­ker herr­schen, doch über dich wird nie­mand herr­schen. Wenn einer dei­ner Brü­der arm ist in ir­gend­ei­ner Stadt im Lande, das der HERR, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht ver­här­ten und deine Hand nicht zu­hal­ten ge­gen­über dei­nem armen Bru­der, son­dern sollst sie ihm auf­tun und ihm lei­hen, so viel er Man­gel hat. Hüte dich, dass nicht in dei­nem Her­zen ein arg­lis­ti­ger Ge­dan­ke auf­stei­ge, dass du sprichst: Es naht das sie­ben­te Jahr, das Er­lass­jahr -, und dass du dei­nen armen Bru­der nicht un­freund­lich an­siehst und ihm nichts gibst; sonst wird er wider dich zu dem HERRN rufen, und bei dir wird Sünde sein. Son­dern du sollst ihm geben, und dein Herz soll sich nicht ver­drie­ßen las­sen, dass du ihm gibst; denn dafür wird dich der HERR, dein Gott, seg­nen in allen dei­nen Wer­ken und in allem, was du un­ter­nimmst. Es wer­den al­le­zeit Arme sein im Lande, darum ge­bie­te ich dir und sage, dass du deine Hand auf­tust dei­nem Bru­der der be­drängt und arm ist in dei­nem Lande.“ Vers 4-11

Durch diese Verse und die Aus­le­gung und die Reihe der Kom­men­ta­re durch die Li­te­ra­tur der Pha­ri­sä­er, wie die Chris­ten sie nen­nen, also durch die rab­bi­ni­sche Li­te­ra­tur, durch den Tal­mud, ist eine wich­ti­ge Li­te­ra­tur ent­stan­den, und von daher ist es in jü­di­schen Ge­mein­den bis zum heu­ti­gen Tage ein Usus, dass wer kommt und bit­tet, dem wird auch ge­ge­ben, man kann nie­man­den weg­schi­cken. Ich gebe ihnen ein Bei­spiel: Wir haben keine „Ves­per­kir­che“ und keine „Schwä­bi­sche Tafel“, aber in der letz­ten Zeit, und das ist die Pra­xis, das ist keine Rede, in der letz­ten Zeit sind al­lein in Stutt­gart in un­se­rer Ge­mein­de über 1000 neue Ge­mein­de­mit­glie­der aus der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on ge­kom­men, sie kön­nen sich das Elend und die Armut vor­stel­len. Sie hat­ten nichts. Und un­se­re Ge­mein­de hat alle Res­sour­cen und Re­ser­ven, alles, was wir für die Zu­kunft zu­rück­ge­legt haben, flüs­sig ge­macht, um die­sen Leu­ten zu hel­fen, damit sie wirt­schaft­lich, geis­tig und auch sonst in­te­griert wer­den. Aus die­sem Grund haben wir bei­spiels­wei­se vier Leh­rer an­ge­stellt, was Leh­rer kos­ten, kön­nen Sie sich vor­stel­len, was die Ein­rich­tung kos­tet, kön­nen sie sich auch vor­stel­len. Wir haben extra eine So­zi­al­ab­tei­lung ein­ge­rich­tet, um den Leu­ten hel­fen zu kön­nen. Hier kommt jeder her­ein, ohne ein Wort des Dan­kes sagen zu müs­sen, weil er weiß, dass ihm die Hilfe zu­steht. Die jü­di­schen Ge­mein­den haben drei Säu­len, eine davon ist die Mild­tä­tig­keit für so­zia­le Ge­rech­tig­keit. Der Aus­druck „Al­mo­sen“, den Chris­ten ver­wen­den, ist auch eine fal­sche Über­set­zung. Jesus hat nie­mals in den Evan­ge­li­en, wenn er das ei­ge­ne Wort ge­spro­chen hat, über Al­mo­sen ge­spro­chen. Al­mo­sen gibt es im He­bräi­schen nicht. Im He­bräi­schen nennt man das „ze­da­ka“, und das heißt Ge­rech­tig­keit üben. Das heißt, du bist ver­pflich­tet, die Un­gleich­hei­ten der Welt zu ni­vel­lie­ren, und des­halb kann man nie genug geben, weil es immer wie­der Un­ge­rech­tig­kei­ten gibt.

Schü­ler: Kann Armut auch als Prü­fung des Men­schen durch Gott (oder den Satan, der al­ler­dings von Gott die Er­laub­nis er­hält) an­ge­se­hen wer­den (z.B. Hiob)? Wie wür­den Sie die­ses Gleich­nis in heu­ti­ger Zeit in­ter­pre­tie­ren? (Was sol­len wir dar­aus ler­nen?)

Dr. Ber­ger: Armut könn­te je­der­zeit als Prü­fung des Men­schen durch Gott emp­fun­den wer­den. Aber das ist sub­jek­tiv. Diese Emp­fin­dung kann nur ein In­di­vi­du­um füh­len. Nie­mals kann ihm so etwas of­fi­zi­ell von einer Ein­rich­tung, von einer Syn­ago­ge, von ir­gend­ei­ner Ge­mein­de an­ge­ord­net wer­den. Das ist seine Emp­fin­dung, dass Gott ihn prü­fen will. Die Pha­ri­sä­er haben in ihren Schrif­ten, (ge­meint sind Rab­bi­ner, die Chris­ten haben sie Pha­ri­sä­er ge­nannt) an einer Stel­le ge­sagt: „Halte dich an die Thora, halte dich an die Schrif­ten in Armut, damit du eines Tages auch als rei­cher Mensch die Schrift hal­ten kannst.“ Zu Satan: der Satan wurde im jü­di­schen Be­reich nie­mals so ernst ge­nom­men oder als leib­haf­tig exis­tie­ren­des Wesen des Bösen an­ge­se­hen. Im Hiobs-Buch, das sie hier in Klam­mern an­füh­ren, wurde le­dig­lich mit dem Ge­dan­ken ge­spielt. Es stellt eine Pa­ra­bel dar. Gott schließt eine Wette mit dem Satan ab. Ich habe nie­mals einen Juden ge­trof­fen, der das so ernst ge­nom­men hat. Diese Wette ist auch so eine Art Ou­ver­tü­re, Fabel, Li­te­ra­tur, eine Ein­lei­tung zum Hiobs-Buch, eine Art, sich viel­leicht ver­ständ­lich zu ma­chen.

Schü­ler: Im Ju­den­tum gibt es das Sab­bat­jahr, in dem alle Schul­den er­las­sen wur­den. Ist dies als Gebot Got­tes zu ver­ste­hen? Gab es diese Pra­xis in bi­bli­schen Zei­ten, wäre sie Ihrer An­sicht nach in un­se­rer Zeit heute über­haupt denk­bar?

Was hal­ten Sie von der For­de­rung ei­ni­ger Ent­wick­lungs­hil­fe­or­ga­ni­sa­tio­nen, die be­wusst auf die Tra­di­ti­on des Sab­bat­jah­res im Ju­den­tum zu­rück­ge­grif­fen haben, den ärms­ten Län­dern im Jahr 2000 alle Schul­den zu er­las­sen?

Dr. Ber­ger: Sie mei­nen, ob in der Pra­xis die Ge­bo­te des „Schmit­ta­jah­res“, also des  Sab­bat­jah­res, denk­bar sind? Ich bitte Sie, un­zäh­li­ge re­li­giö­se Sied­lun­gen, die hier zu Lande als or­tho­do­xe Sied­lun­gen ver­pönt und mit dem Teu­fel gleich­ge­setzt wer­den, wenn sie in den Me­di­en weich ge­klopft wer­den, hal­ten sich daran. Nur, wie ge­sagt, das ist kein Staats­ge­setz, weil Chris­ten, Ara­ber und an­de­re auch Be­sitz­tü­mer im Lande haben, die kann man nicht per jü­di­schem Ge­setz, per Thora also, auf die Bibel ver­pflich­ten, dann würde die ganze Welt auf­schrei­en, dass die Min­der­hei­ten ver­ge­wal­tigt wer­den, noch mehr als heute, daher wer­den diese Min­der­hei­ten in ihrer Frei­heit be­las­sen. Aber jü­di­sche Sied­lun­gen tun es aus ei­ge­ner Über­zeu­gung, und jü­di­sche Kib­bu­zim, also aus dem ei­ge­nen Lande, dem West­jor­dan­land, oder wo auch immer, hal­ten diese Ge­bo­te ein. Ich war neu­lich, im letz­ten Sab­bat­jahr, zu­fäl­lig in Is­ra­el, und es hat mich über­rascht, als ich in Je­ru­sa­lem drei Män­ner mit einem Auto ste­hen sah, voll ge­packt mit Kar­tof­feln und Oran­gen. Die drei – es waren mar­ki­ge Typen - gin­gen auf den Platz und fin­gen an, alles zu ver­tei­len. Ich habe ge­fragt was hier los sei, und sie ant­wor­te­ten: „Was heißt, was ist hier los? Sie wis­sen nicht, dass es Schmit­ta­jahr ist - also Sab­bat­jahr?“ Das heißt, was von al­lei­ne ge­wach­sen ist, wird in den rich­ti­gen Ge­setz­ver­hält­nis­sen auf­ge­ho­ben. Der Kib­buz ver­teilt, was ge­wach­sen ist, weil er die Er­trä­ge im sieb­ten Jahr nicht in sei­nem Be­sitz be­hal­ten will. Die Leute, die ge­ra­de da waren, be­ka­men die Ernte. Also an­statt „Ves­per­kir­che“ oder „Schwä­bi­sche Tafel“ ist dies auch eine Ant­wort auf die Frage, wie ak­tu­ell heute diese Ge­set­ze sein kön­nen. Es gibt nicht nur das Sab­bat­jahr, es gibt auch das Jo­bel­jahr. Das heißt, dass alle 50 Jahre sämt­li­che Be­sitz­tü­mer zu­rück­ge­ge­ben wer­den müs­sen. Dies steht im 3. Buch Mose 25.

Jetzt zu der For­de­rung: Ich bin dafür, dass im Jahre 2000 den ärms­ten Län­dern alle Schul­den er­las­sen wer­den.

Schü­ler: In der 2000-jäh­ri­gen Ge­schich­te der jü­di­schen Dia­spo­ra gab es Po­gro­me, Aus­gren­zun­gen, Ver­trei­bun­gen. Oft konn­ten Ein­zel­ne nur das nack­te Leben ret­ten und waren auf die Un­ter­stüt­zung und So­li­da­ri­tät ihrer Glau­bens­ge­nos­sen an­ge­wie­sen. Hat diese ge­schicht­li­che Er­fah­rung das Ju­den­tum be­son­ders – viel­leicht mehr als an­de­re Völ­ker – für so­zia­le Be­lan­ge sen­si­bi­li­siert?
Er­klärt sich dar­aus auch das be­son­de­re En­ga­ge­ment so vie­ler Juden (Las­sal­le, Marx, Lu­xem­burg), auf dem Ge­biet der So­zia­len Frage des 19. Jahr­hun­derts? Auch in Stutt­gart haben sich viele Juden so­zi­al sehr en­ga­giert, der Un­ter­neh­mer Edu­ard Pfeif­fer hat hier die erste So­zi­al­sied­lung ge­baut, wofür er Eh­ren­bür­ger der Stadt wurde.

Dr. Ber­ger: Aus Stutt­gar­ter Sicht müss­te man neben Edu­ard Pfeif­fer si­cher auch Fritz Elsas und Otto Hirsch nen­nen.

Zum ers­ten Teil Ihrer Frage: Ich glau­be wohl, dass auch ohne Po­gro­me, Aus­gren­zun­gen und Ver­trei­bun­gen im Ju­den­tum schon immer galt - von den bi­bli­schen Bü­chern, von der Thora, von den Bü­chern Mose her - So­li­da­ri­tät als obers­tes Gebot zu sehen und stets an­de­ren zu hel­fen. Die ge­schicht­li­che Er­fah­rung hat das Ju­den­tum für diese Pro­ble­ma­tik nur in be­son­de­rem Maße ge­schärft und ge­stärkt, dies in­ten­si­ver zu tun, und es kam noch dazu, dass aus Will­kür ge­fan­gen ge­nom­me­ne Glau­bens­brü­der und -schwes­tern aus der Ge­fan­gen­schaft be­freit wer­den muss­ten, und dafür hat eine jede Ge­mein­de immer frei­wil­lig ge­spen­det, um das Lö­se­geld auf­zu­brin­gen. Die be­rühm­tes­te Ge­schich­te einer sol­chen Be­frei­ung eines Ge­fan­ge­nen in un­se­rer Re­gi­on ist die Ge­schich­te von Rabbi Meir ben Ba­ruch von Ro­then­burg, den Kai­ser Ru­dolf von Habs­burg will­kür­lich ge­fan­gen neh­men ließ, um von den Juden Gel­der zu er­pres­sen, der Rabbi sei­ner­seits hat ver­bo­ten, ihn durch Zah­lung zu be­frei­en, und erst nach dem Tode - lange Zeit nach dem Tode - konn­te ein Jude aus Frank­furt na­mens Alex­an­der ben Sa­lo­mo Wimp­fen den Leich­nam durch viel Geld frei­kau­fen. Er wurde bis dahin in den Ka­se­mat­ten von En­sis­heim  auf­be­wahrt. Die ein­zi­ge Be­din­gung Wimp­fens war, dass er zu den Füßen des Rabbi, wenn er eines Tages ster­ben würde, ruhen woll­te. So ist es auch zu sehen im Hei­li­gen Sand, dem äl­tes­ten jü­di­schen Fried­hof von Worms. Diese Bei­spie­le haben selbst­ver­ständ­lich ein gro­ßes Echo im Ju­den­tum aus­ge­löst.

Das so­zia­le En­ga­ge­ment von Las­sal­le und Lu­xem­burg und vie­len an­de­ren, selbst­ver­ständ­lich fal­len mir auch Edu­ard Bern­stein und noch an­de­re ein - Marx möch­te ich nicht er­wäh­nen, Marx ist schon in einer christ­li­chen Fa­mi­lie ge­bo­ren, d.h. Marx geht in die christ­li­che Rich­tung. Bei uns blei­ben dafür Trotz­kij, Bucha­rin, Ka­menew und an­de­re rus­si­sche Ge­sell­schafts­ver­än­de­rer, die al­le­samt von Sta­lin sau­ber um­ge­bracht wor­den sind. Sie sind heut­zu­ta­ge viel­leicht in die­sem „Schwarz­buch des Kom­mu­nis­mus“ wie­der zu fin­den. Aber zwei­fels­oh­ne ist es rich­tig, dass das so­zia­le En­ga­ge­ment im Ju­den­tum stets groß war, und zwar nicht nur bei Män­nern - sie haben, aus­ge­nom­men von Rosa Lu­xem­burg, nur Män­ner ge­nannt, aber wir haben auch meh­re­re Frau­en, die sich für die so­zia­le Pro­ble­ma­tik in­ter­es­siert haben.

Schü­ler: Wenn man sich die Bil­der von Roman Vish­ni­ac an­schaut, be­kommt man eine Vor­stel­lung von der un­glaub­li­chen Armut, die oft im ost­eu­ro­päi­schen Schtetl herrsch­te. Der Autor nennt die Ärms­ten „Luft­men­schen“ (weil sie nur von der Luft leb­ten). Kann man sagen, dass durch die Armut be­son­ders aus­ge­präg­te re­li­giö­se For­men wie der „Chas­si­dis­mus“ ent­stan­den sind? Wel­che Be­deu­tung hat diese Re­li­gi­ons­form im heu­ti­gen jü­di­schen Leben?

Dr. Ber­ger: Zur Rich­tig­stel­lung: ,,Chas­si­dis­mus" ist die letz­te große Auf­klä­rungs­be­we­gung im Ju­den­tum in Eu­ro­pa, bes­ser ge­sagt im Osten Eu­ro­pas. Sie müs­sen die Si­tua­ti­on im 17. Jahr­hun­dert be­den­ken. Nach dem Chmel´ni­ckij-Auf­stand von 1648 kam es zu gro­ßen Po­gro­men, bei denen un­zäh­li­ge Juden er­mor­det wor­den sind und viele aus Russ­land, der Ukrai­ne, Polen, Li­tau­en, Lett­land, usw. flüch­ten muss­ten. Die Ge­mein­den blie­ben dort meist ohne geis­ti­ge Füh­rung zu­rück. Da ent­stand so­zu­sa­gen der ,,Chas­si­dis­mus" durch Leh­rer ohne gro­ßes tal­mu­di­sches Wis­sen aus zwei­er­lei bi­bli­schen und tal­mu­di­schen Aus­sa­gen. Die erste Aus­sa­ge war aus dem Psalm 100: „Die­net dem Herrn mit Freu­den“. Dazu ge­hört das Trin­ken von Schnaps - Wein gab es dort si­cher­lich nicht - und Tan­zen, Ge­sang, usw. Die ganze Klez­mer-Musik heut­zu­ta­ge ver­dankt ihren Ur­sprung die­sem Zu­stand. Die Fröh­lich­keit ist auch ein Mit­tel zu die­nen, nicht nur das Stu­di­um, nicht nur die stren­ge Fröm­mig­keit. Eine an­de­re tal­mu­di­sche Aus­sa­ge lau­tet: „Der barm­her­zi­ge Gott be­nö­tigt das Herz“, ge­meint ist also die Ge­fühls­be­tont­heit. Diese Grund­sät­ze führ­ten zum „Chas­si­dis­mus“, zum Schtetl, zum Wie­der­auf­blü­hen die­ser armen Re­gio­nen. Sie haben Recht, ohne diese Be­we­gung wäre auf Grund der Arm­se­lig­keit die­ser Städ­te die Si­tua­ti­on trost­los ge­we­sen. Durch den ,,Chas­si­dis­mus" hat es einen neuen In­halt ge­ge­ben. Be­son­ders schön schreibt dar­über Manès Sper­ber in sei­ner Au­to­bio­gra­fie mit dem Titel „Die Was­ser­trä­ger Got­tes“, in der er seine Kind­heit in Ost­ga­li­zi­en be­schreibt.

Schü­ler: Bei der Grün­dung des Staa­tes Is­ra­el spiel­ten die Kib­bu­zim eine wich­ti­ge Rolle. Diese Idee ver­wirk­lich­te die so­zia­le Gleich­heit ihrer Mit­glie­der (glei­ches Ein­kom­men aller). War diese Le­bens­form nur unter den Be­din­gun­gen der Staats­grün­dung wich­tig, oder könn­te diese Mo­dell vor­bild­haft auch für un­se­re Ge­sell­schaft sein. Wird seine Be­deu­tung für die Zu­kunft des Staa­tes Is­ra­el – Ihrer An­sicht nach – eher ge­rin­ger wer­den?

Dr. Ber­ger: Ich glau­be nicht, dass die­ses Mo­dell vor­bild­haft ist. Den­noch leben auch heute noch über 10% der Juden in Is­ra­el als Kib­bu­zim, und daher wird auch ihre Be­deu­tung für die Zu­kunft nicht ge­rin­ger wer­den. Die Kib­bu­zim stel­len eine füh­ren­de Rolle dar, und mei­ner An­sicht nach wer­den sie dies auch noch wei­ter­hin tun.

Schü­ler: In der let­zen Zeit haben Me­di­en häu­fig dar­über be­rich­tet, dass jü­di­sches Ver­mö­gen, das in der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Epo­che z.B. auf Schwei­zer Ban­ken trans­fe­riert wurde, nicht an die Ei­gen­tü­mer oder deren Erben zu­rück­ge­ge­ben wor­den ist. Viele Ver­folg­te sind nicht aus­rei­chend für ihre Ver­lus­te, die sie er­lit­ten haben, ent­schä­digt wor­den. Gibt es auch in Ihrer Ge­mein­de noch un­ge­lös­te Pro­ble­me?

Gibt es bei Ihnen Ge­mein­de­mit­glie­der, die heute vor allem des­we­gen arm sind, weil sie in jenen Zei­ten alles ver­lo­ren haben?

Dr. Ber­ger: Si­cher­lich sind von der da­ma­li­gen Zeit noch blei­ben­de Schä­den bei uns vor­han­den, und es gibt noch Pro­ble­me, doch über ein­zel­ne Schick­sa­le kann ich nichts sagen, da es so viele in­di­vi­du­el­le Er­leb­nis­se gibt, und jeder hat es auch für sich selbst an­ders emp­fun­den. Wir haben Ge­mein­de­mit­glie­der, die z.B. in Kra­kau oder an­ders­wo Be­sitz­tü­mer hat­ten, die sie ver­lo­ren haben; sie müs­sen heute des­halb be­schei­de­ner leben, als sie es ohne die­sen Ver­lust könn­ten. Au­ßer­dem sind es nicht nur Schä­den ma­te­ri­el­ler Art, son­dern vor allem auch psy­chi­scher Art. Viele sind heute arm an Ver­wand­ten, an Fa­mi­lie all­ge­mein, da viele ge­tö­tet wur­den oder sie ihre Hei­mat ver­las­sen muss­ten und sie nun weit ent­fernt von­ein­an­der leben. Ma­te­ri­ell ge­se­hen geht es ihnen nicht schlech­ter, und von Trans­fers in die Schweiz habe ich nichts mit­be­kom­men, des­halb kann ich dazu auch keine Stel­lung neh­men. Die ma­te­ri­el­le Seite ist we­ni­ger das Pro­blem. Viel ent­schei­den­der ist aber eine an­de­re Seite. Diese „emo­tio­na­le Armut“ zu er­tra­gen ist viel schlim­mer. Schau­en Sie sich un­se­re Fried­hö­fe an. Aus der un­mit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit fin­den Sie viele Kin­der­grä­ber. Auf Grund ihrer Lei­den in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern waren Frau­en oft nicht in der Lage, über­le­bens­fä­hi­ge Kin­der zu be­kom­men. Auch die zwei­te und jetzt schon drit­te Ge­ne­ra­ti­on lei­det noch unter die­sen Fol­gen, sie haben keine Onkel und Tan­ten, keine Groß­el­tern ...

Schü­ler: Wel­che Ein­rich­tun­gen gibt es in Ihrer Ge­mein­de, die sich um die Be­lan­ge der Hilfs­be­dürf­ti­gen, vor allem Armen, küm­mern, und wie ar­bei­ten diese, gibt es Pro­ble­me bei der Fi­nan­zie­rung der Auf­ga­ben?

Dr. Ber­ger: Un­se­re größ­te Auf­ga­be auf die­sem Ge­biet ist zur Zeit die In­te­gra­ti­on der neuen Ge­mein­de­mit­glie­der. Wir haben eine ei­ge­ne So­zi­al­ab­tei­lung ein­ge­rich­tet, die sich um die Neu­an­kömm­lin­ge küm­mert. Wir ver­su­chen sie ein­zu­glie­dern, ihnen eine Woh­nung zu be­sor­gen und ihnen Ar­beit zu be­schaf­fen. Das kos­tet na­tür­lich eine Menge Geld, doch wir sind alle hilfs­be­reit, und so schaf­fen wir es, diese Ab­tei­lung zu er­hal­ten und an­de­ren, die un­se­re Hilfe be­nö­ti­gen, zu hel­fen.

Schü­ler: Herr Lan­des­rab­bi­ner, Sie haben sich hef­tig über eine christ­li­che Ge­mein­schaft be­schwert, die die Not­la­ge von jü­di­schen Aus­wan­de­rern aus den Nach­fol­ge­staa­ten der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on aus­nüt­zen würde, um diese zu mis­sio­nie­ren. Ist dies als mo­ra­li­scher Ap­pell an die Be­trof­fe­nen zu ver­ste­hen, oder haben Sie auch For­de­run­gen an staat­li­che Stel­len?

Dr. Ber­ger: Ja, das war der EDI (Evan­ge­li­ums­dienst für Is­ra­el). Der EDI ver­sucht, die Juden aus der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on, die durch das Re­gime, das dort herrsch­te, nichts über ihre Re­li­gi­on wis­sen konn­ten, da sie von ihren jü­di­schen Wur­zeln und der Tra­di­ti­on ab­ge­schnit­ten waren, und somit keine Chan­ce hat­ten, ihre ei­gent­li­che Re­li­gi­on ken­nen zu ler­nen, schon dort zu be­keh­ren. Sie ver­spre­chen ihnen z.B. eine Woh­nung, wenn sie ihnen bei­treten. Wegen die­ser Aus­sa­ge von mir hat der EDI uns ver­klagt, doch in ers­ter In­stanz wurde das Ver­fah­ren schon wie­der ein­ge­stellt. Das war keine For­de­rung von mir, ich woll­te ein­fach nur dar­auf auf­merk­sam ma­chen, was so alles an­ge­stellt wird, um Mit­glie­der zu wer­ben.

Schü­ler: Wel­che Er­war­tun­gen haben Sie an die Zu­kunft? Wird man immer mit die­ser Kluft zwi­schen Armen und Rei­chen (z.B. auch in Ent­wick­lungs­län­dern) leben müs­sen, oder gibt es Mög­lich­kei­ten, viel­leicht sogar die Pflicht, etwas zu än­dern?

Dr. Ber­ger: Wir haben be­stimmt die Pflicht, Armut durch un­se­re Hilfe zu lin­dern. Ich habe auch die Hoff­nung, dass in der Zu­kunft eine Bes­se­rung ein­tre­ten wird, wie sich schon immer vie­les ver­bes­sert hat. Ich ver­wei­se Sie noch ein­mal auf das 5. Buch Mose, Ka­pi­tel 15, Vers 11. Hier heißt es: „Es wer­den al­le­zeit Arme sein im Lande; darum ge­bie­te ich dir und sage, dass du deine Hand auf­tust dei­nem Bru­der, der be­drängt und arm ist in dei­nem Lande.“

Schü­ler: Herr Dr. Ber­ger, wir be­dan­ken uns für das Ge­spräch.