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Epi­sche Text­sor­ten

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Die neue­re For­schung zur Nar­ra­to­lo­gie hat den schlich­ten Sche­ma­tis­mus der Er­zäh­ler­po­si­tio­nen, der auf Franz K. Stan­zel zu­rück­geht, über­wun­den. Ging diese von drei Er­zäh­ler­po­si­tio­nen aus (auk­to­ria­ler und per­so­na­le Er­zäh­ler­po­si­ti­on, Ich-Er­zäh­ler), so wer­den nun fol­gen­de Ka­te­go­ri­en un­ter­schie­den, nach denen sich nar­ra­ti­ve Texte be­stim­men las­sen: [1] [2] [3] [4]

1. Der Blick bzw. die Fo­ka­li­sie­rung :

  • Null-Fo­ka­li­sie­rung: Der Er­zäh­ler kennt die In­nen­sicht aller Fi­gu­ren. Von Null-Fo­ka­li­sie­rung wird des­halb ge­spro­chen, weil keine ein­zel­ne Figur im Fokus steht.

  • in­ter­ne Fo­ka­li­sie­rung: Der Er­zäh­ler kennt die Ge­dan­ken einer Figur.

  • ex­ter­ne Fo­ka­li­sie­rung: Der Er­zäh­ler schil­dert das Ge­sche­hen von außen und kennt die Ge­dan­ken der Fi­gu­ren nicht.

2. Die Stim­me :

a. Die­ge­se : Die Stel­lung des Er­zäh­lers zum Er­zähl­ten und Ebene bzw. Ort des Er­zäh­lens

  • homo-die­ge­ti­sche Rede: ich-Er­zäh­lung. Der Er­zäh­ler er­zählt von einem Ge­sche­hen, an dem er selbst be­tei­ligt war.
  • he­te­ro-die­ge­ti­sche Er­zäh­lung. Der Er­zäh­ler er­zählt von einem Ge­sche­hen, an dem er nicht be­tei­ligt war (Z.B. der Er­zäh­ler einer Fabel)

b. Er­zähl­ebe­ne :

  • extra-die­ge­ti­sches Er­zäh­len: Er­zäh­len auf der ers­ten Ebene
  • intra-die­ge­ti­sches Er­zäh­len: Er­zäh­lung in­ner­halb der Er­zäh­lung (Mär­chen der Sche­he­zer­a­de; Ae­ne­as Be­richt über seine Er­leb­nis­se in Troia: Diese Er­zäh­lung ist zu­gleich eine ho­mo­die­ge­ti­sche Er­zäh­lung)

c. Wer spricht? Dif­fe­renz zwi­schen Er­zäh­ler und Autor. Mar­ti­nez / Schef­fel zi­tie­ren ein glück­li­ches Dik­tum Jean Paul Sar­tres: "Der Autor ... er­fin­det und der Er­zäh­ler er­zählt, was ge­sche­hen ist ... Der Autor er­fin­det den Er­zäh­ler..." (Mar­ti­nez / Schef­fel S. 68 f.)

d. Zu wem spricht der Er­zäh­ler? Hier ist z.B. an den dop­pel­ten Adres­sa­ten in Ver­gil, Aen. 6,851 zu den­ken (tu re­ge­re im­pe­rio, Ro­ma­ne, me­men­to) - Dass An­chi­ses Ae­ne­as als 'Ro­ma­ne' an­spricht, ist s of­fen­kun­dig ana­chro­nis­tisch, dass der rö­mi­sche Leser als zwei­ter Adres­sat der An­chi­ses-Rede mit­ge­dacht wer­den kann. Eine eben­falls mar­kan­te Apo­stro­phe ist Lukan, 9, 601 : 'Ecce par­ens verus pa­triae, dig­nis­si­mus aris, / Roma, tuis'. (Mit 'ecce' wird auf Cato Uti­cen­sis ver­wie­sen; vgl. zu die­sem Epos im fol­gen­den Ab­schnitt.)

3. Für Schü­ler ist die Un­ter­schei­dung nar­ra­ti­ver Pas­sa­gen nach Er­zäh­ler­re­de und Fi­gu­ren­re­de be­son­ders er­gie­big.

4. Die er­zähl­te Welt. Jeder Er­zäh­ler muss eine Welt der Fik­ti­on krei­ie­ren, die mit der rea­len Welt mehr oder we­ni­ger Züge ge­mein­sam haben kann. Diese Welt hat his­to­ri­sche und geo­grphi­sche Ko­or­di­na­ten, die eb eben­falls mit denen der rea­len Welt kon­gru­ent sein kön­nen oder auch nicht.

5. Der Raum: Wel­che Raum­vor­stel­lung wird durch die Er­zäh­lung kon­stru­iert? Oft stel­len nar­ra­ti­ve Texte dar, wie ein Held eine räum­li­che Gren­ze über­schrei­tet oder zu über­schrei­ten ver­sucht (Jurij M.​Lot­man) - trifft das auch im vor­lie­gen­den Text zu?

Bei­spiel

Ein in der Schu­le sel­ten be­han­del­tes Epos ist Lu­kans Bel­lum ci­vi­le. Un­ty­pisch ist es in­so­fern, als hier nicht ein my­tho­lo­gi­scher Held im Mit­tel­punkt steht; viel­mehr ge­stal­tet Lukan den Bür­ger­krieg zwi­schen Cae­sar und Pom­pei­us. Eine der zen­tra­len Fi­gu­ren ist M.​Por­ci­us Cato (Uti­cen­sis),  der in der hier vor­ge­stell­ten Un­ter­richts­ein­heit an meh­re­ren Stel­len vor­kommt. Cato Uti­cen­sis ist der Ur­en­kel des M.​Por­ci­us Cato (Cen­so­ri­nus) oder Maior. [5] [6] [7] [8]

Vignette

Ti­tel­vi­gnet­te einer Lukan-Aus­ga­be aus dem Jahr 1783

Zum Text: Lukan, Bel­lum Ci­vi­le, 9. Buch  

 

Wei­te­re Epen in die­sem Un­ter­richts­ent­wurf:

  Ein­heit Ovid, Me­ta­mor­pho­sen, Arach­ne-My­thos

Fra­gen an epi­sche Texte:

  1. Wie ist die Pas­sa­ge auf­ge­baut? Wel­cher Hand­lungs­gang ist zu be­ob­ach­ten?
  2. Was er­fah­ren wir über die er­zähl­te Welt?
  3. Die Stim­me des Er­zäh­lers (Die­ge­se): Ist der Er­zäh­ler eine der han­deln­den Fi­gu­ren oder steht er au­ßer­halb der Hand­lung?
  4. Ge­hört der Er­zäh­ler zur er­zähl­ten Welt?
  5. Der Blick (Fo­ka­li­sie­rung): Was sieht der Er­zäh­ler? Ist die Wahr­neh­mung des Er­zäh­lers mit dem Blick einer ein­zi­gen Figur iden­tisch? Wech­selt der Blick?
  6. Spricht der Er­zäh­ler oder spre­chen die Fi­gu­ren (Er­zäh­ler­re­de / Fi­gu­ren­re­de)?
  7. Bei der Spra­che ist v.a. das Tem­pus­re­lief in­ter­es­sant.
  8. Wird der Leser an­ge­spro­chen?
  9. Lässt sich ein Thema be­stim­men, von dem die Er­zäh­lung han­delt? Wer­den z.B. re­li­giö­se oder so­zia­le Kon­flik­te an­ge­spro­chen?

 


An­mer­kun­gen und Li­te­ra­tur­hin­wei­se

[1] Ma­ti­as Mar­ti­nez / Mi­cha­el Schef­fel: Ein­füh­rung in die Er­zähl­theo­rie, 8. Aufl. Mün­chen 2009

[2] Gérard Ge­net­te: Die Er­zäh­lung, 3. Aufl., Pa­der­born 2010

[3] Im On­line-Kurs 'Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft On­line' der Uni­ver­si­tät Kiel kann man sich mit den Be­grif­fen der Er­zähl­theo­rie ver­traut ma­chen: Er­zähl­si­tua­tio­nen und hier der
Ein­gangs­be­reich .

[4] Ein ähn­lich ge­la­ger­tes Pro­jekt der Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf; 'Ein­la­dung zur Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft', Ka­pi­tel 'Die Stim­me des Er­zäh­lers .'

[5] Lu­ca­nus: Bel­lum ci­vi­le. Der Bür­ger­krieg, hg. u. übers. v. Wil­helm Eh­lers (Tus­cu­lum), 2. Aufl. Mün­chen 1973

[6] Lukan: De bello ci­vi­li. Der Bür­ger­krieg, lat./dt., übers. u. hrsg. v. Georg Luck, Stutt­gart (Re­clam) 2009

[7] Mar­tin See­wald: Lucan. 9,1-604: ein Kom­men­tar,  Göt­tin­gen 2002,
On­line-Dis­ser­ta­ti­on

[8] Über­set­zung bei Goog­le Books, hg. F.​H.​Bothe et.​al., Stutt­gart 1853:
http://​books.​goog­le.​de/​books?​id=Kec​8AAA​AcAA​J