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Ci­ce­ro, De fi­ni­bus, 3,62-66

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Die Ge­mein­schaft der Men­schen

Text­sor­te: Phi­lo­so­phi­scher Dia­log; Rede in­ner­halb des Dia­logs

Der Spre­cher ist M. Por­ci­us Cato Uti­cen­sis.

Quel­le: www.​the​lati​nlib​rary.​com . Der Text wurde über­prüft und an die für Schul­aus­ga­ben üb­li­che Recht­schrei­bung und Zei­chen­set­zung an­ge­passt. Ein wis­sen­schaft­li­chen Kri­te­ri­en ge­nü­gen­der Text steht auf den Sei­ten des
Pa­ckard Hu­ma­nities In­sti­tu­te .

 

[62] Per­ti­ne­re autem ad rem ar­bit­ran­tur in­tel­le­gi na­tu­ra fieri ut li­be­ri a par­en­ti­bus amen­tur. a quo in­i­tio pro­fectam com­mu­nem hu­ma­ni ge­ne­ris so­cieta­tem per­se­qui­mur. quod pri­mum in­tel­le­gi debet fi­gu­ra mem­bris­que cor­po­rum, quae ipsa de­clarant pro­crean­di a na­tu­ra ha­bitam esse ra­tio­nem. neque vero haec inter se con­grue­re pos­sent, ut na­tu­ra et pro­crea­ri vel­let et di­li­gi pro­crea­tos non cura­ret. atque etiam in be­s­tiis vis na­tu­rae per­spi­ci po­test; quar­um in fetu et in edu­ca­tio­ne la­bo­rem cum cer­ni­mus, na­tu­rae ip­si­us vocem vi­de­mur au­dire. quare <ut> per­spi­cu­um est na­tu­ra nos a do­lo­re ab­hor­re­re, sic ap­pa­ret a na­tu­ra ipsa, ut eos, quos ge­nue­ri­mus, ame­mus, in­pel­li. 

Sie (die Stoi­ker) mei­nen aber, es ge­hö­re hier­hin auch, dass man er­kennt, dass von Natur aus die Kin­der von den El­tern ge­liebt wer­den. Von die­sem An­fang her be­trach­ten wir nun die Ge­mein­schaft des Men­schen­ge­schlechts. Dies muss zu­erst aus der Ge­stalt der Kör­per und aus den Kör­per­tei­len er­kannt wer­den, die selbst an­zei­gen, dass das Ziel der Fort­pflan­zung von der Natur ge­plant war. Und dies könn­te nicht zu­ein­an­der pas­sen, dass die Natur sich fort­pflan­zen möch­te und nicht dafür sorgt, dass die Ab­kömm­lin­ge ge­liebt wer­den. Und sogar bei den Tie­ren kann man dies be­ob­ach­ten; wenn wir deren Mühe um die Brut um deren Auf­zucht sehen, scheint es uns, als hör­ten wir die Stim­me der Natur selbst. Wie es daher of­fen­bar ist, dass wir von Natur aus vom Schmerz zu­rück­schre­cken, so ist es of­fen­bar, dass wir von der Natur selbst dazu an­ge­trie­ben wer­den, dass wir die­je­ni­gen, die wir her­vor­ge­bracht haben, lie­ben.

[63] ex hoc na­sci­tur, ut etiam com­mu­nis ho­mi­num inter ho­mi­nes na­tu­ra­lis sit com­men­da­tio, ut opor­teat ho­mi­nem ab ho­mi­ne ob id ipsum, quod homo sit, non ali­e­num vi­de­ri. ut enim in mem­bris alia sunt tam­quam sibi nata, ut oculi, ut aures, alia etiam ce­ter­o­rum mem­bro­rum usum adi­uvant, ut crura, ut manus, sic in­ma­nes qua­e­dam bes­tiae sibi solum natae sunt, at illa, quae in con­cha pa­tu­la pina di­ci­tur, isque, qui enat e con­cha, qui, quod eam cus­to­dit, pi­no­te­res vo­ca­tur..., item­que for­mi­cae, apes, ci­co­niae alio­rum etiam causa qua­e­dam fa­ci­unt. multo haec co­ni­unc­ti­us ho­mi­nes. itaque na­tu­ra sumus apti ad coe­tus, con­ci­lia, ci­vi­ta­tes. 

Daher kommt auch, dass es ein ge­mein­sa­mes, na­tür­li­che Ge­fühl der Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit zwi­schen den Men­schen gibt, so dass es not­wen­dig ist, dass der Mensch von einem an­de­ren Men­schen al­lein schon des­we­gen, weil er Mensch ist, nicht als Frem­der an­ge­se­hen wird. Wie näm­lich bei den Kör­per­tei­len die einen gleich­sam für sich selbst ent­stan­den sind, wie die Augen und die Ohren, an­de­re aber den Ge­brauch der üb­ri­gen Kör­per­tei­le un­ter­stüt­zen, wie die Beine und die Hände, so gibt es be­stimm­te wilde Tiere, die nur für sich ent­stan­den sind, aber jene Steck­mu­schel, die in einer brei­ten Scha­le sitzt, und jener Steck­mu­schel­hü­ter, der aus der Mu­schel ent­steht und der so ge­nannt wird, weil er diese be­hü­tet..., und eben­so die Amei­sen, Bie­nen und Stör­che tun be­stimm­te Dinge um an­de­rer Le­be­we­sen wil­len (a). Noch viel mehr sind die Men­schen un­ter­ein­an­der ver­bun­den. Des­halb sind wir von Natur aus für das Zu­sam­men­le­ben, für Ver­samm­lun­gen und für die Ge­mein­de ge­eig­net.

[64] mund­um autem cen­sent regi nu­mi­ne de­o­rum, eum­que esse quasi com­mu­nem urbem et ci­vi­ta­tem ho­mi­num et de­o­rum, et unum quem­que no­strum eius mundi esse par­tem; ex quo illud na­tu­ra con­se­qui, ut com­mu­nem uti­li­ta­tem nostrae an­te­po­na­mus. ut enim leges om­ni­um sa­lu­tem sin­gu­l­o­rum sa­lu­ti an­te­pon­unt, sic vir bonus et sa­pi­ens et le­gi­bus par­ens et ci­vi­lis of­fi­cii non igna­rus uti­li­ta­ti om­ni­um plus quam unius ali­cui­us aut suae con­su­lit. ... ex quo fit, ut lau­dan­dus is sit, qui mor­tem op­pe­tat pro re pu­bli­ca, quod de­ceat ca­rio­rem nobis esse pa­tri­am quam nos­met ipsos. quo­niam­que illa vox in­hu­ma­na et sce­le­ra­ta du­ci­tur eorum, qui ne­gant se re­cusa­re quo minus ipsis mor­tuis ter­rar­um om­ni­um de­fla­gra­tio con­se­qua­tur ..., certe verum est etiam iis, qui ali­quan­do fu­tu­ri sint, esse prop­ter ipsos con­sulen­dum. 

Sie (b) mei­nen aber, dass die Welt vom Wil­len der Göt­ter ge­lenkt wird und dass sie so­zu­sa­gen die ge­mein­sa­me Stadt und Ge­mein­de der Men­schen und Göt­ter sei, und dass jeder Ein­zel­ne von uns ein Teil die­ser Welt ist; dar­aus folge jenes auf na­tür­li­che Weise, dass wir den ge­mein­sa­men Nut­zen un­se­rem ei­ge­nen vor­an­stel­len. Wie näm­lich die Ge­set­ze das Wohl­er­ge­hen aller dem Wohl­er­ge­hen der Ein­zel­nen vor­an­stel­len, so sorgt der gute, weise, ge­set­zes­treue Mann, der die bür­ger­li­che Pflicht kennt, mehr für das ge­mein­sa­me Wohl als für das eines be­lie­bi­gen Ein­zel­nen oder auch als für das ei­ge­ne. ... Dar­aus folgt, dass der lo­bens­wert ist, der den Tod für den Staat auf sich nimmt, weil es rich­tig ist, dass das Va­ter­land uns lie­ber sein muss als wir uns selbst. Und da ja jene Mei­nung der Leute für un­mensch­lich und ver­bre­che­risch ge­hal­ten wird, die mei­nen, es sei für sie un­er­heb­lich, ob nach ihrem Tod die ganze Welt in Flam­men un­ter­geht ... , so ist es si­cher­lich wahr, dass man auch für die Men­schen  einer fer­nen Zu­kunft sor­gen muss. 

[65] ex hac ani­mo­rum af­fec­tio­ne tes­ta­men­ta com­men­da­tio­nes­que mori­en­ti­um natae sunt. quod­que nemo in summa so­li­tu­di­ne vitam agere velit ne cum in­fi­ni­ta qui­dem vo­lupt­atum ab­un­dan­tia, fa­ci­le in­tel­le­gi­tur nos ad co­ni­unc­tio­nem con­gre­ga­tio­nem­que ho­mi­num et ad na­tu­ra­lem com­mu­ni­ta­tem esse natos. In­pelli­mur autem na­tu­ra, ut pro­des­se ve­li­mus quam plu­r­i­mis in­pri­mis­que do­cen­do ra­tio­ni­bus­que pru­den­tiae tra­den­dis.

Aus die­ser Grund­stim­mung sind auch die Tes­ta­men­te und Emp­feh­lun­gen der Ster­ben­den ent­stan­den. Und weil nie­mand sein Leben in größ­ter Ein­sam­keit füh­ren will, nicht ein­mal im Über­fluss aller Ver­gnü­gun­gen, so wird leicht ein­seh­bar, dass wir zur Ver­bin­dung und Ver­ei­ni­gung der Men­schen und zu einer na­tür­li­chen Ge­mein­schaft ge­bo­ren sind. Wir wer­den aber von der Natur dazu an­ge­trie­ben, dass wir so vie­len Men­schen wie mög­lich nüt­zen möch­ten, vor allem, indem wir an­de­re un­ter­rich­ten und die Be­weg­grün­de der Ein­sicht wei­ter­ge­ben.

[66] itaque non fa­ci­le est in­ve­ni­re qui, quod sciat, ipse non tra­dat al­te­ri; ita non solum ad dis­cen­dum pro­pen­si sumus, verum etiam ad do­cen­dum. Atque ut tau­ris na­tu­ra datum est ut pro vi­tu­lis con­tra leo­nes summa vi im­pe­tu­que cont­en­dant, sic ii, qui va­lent opi­bus atque id fa­ce­re poss­unt, ut de Her­cu­le et de Li­be­ro ac­ce­pi­mus, ad ser­van­dum genus ho­mi­num na­tu­ra in­ci­t­an­tur. Atque etiam Iovem cum Op­ti­mum et Ma­xi­mum di­ci­mus cum­que eun­dem Sa­luta­rem, Hos­pi­ta­lem, Sta­to­rem, hoc in­tel­le­gi vo­lu­mus, sa­lu­tem ho­mi­num in eius esse tu­te­la. mi­ni­me autem con­ve­nit, cum ipsi inter nos viles ne­glec­tique simus, pos­tu­la­re ut diis in­mor­ta­li­bus cari simus et ab iis di­li­gamur. Quem ad modum igi­tur mem­bris uti­mur prius, quam di­di­ci­mus, cuius ea causa uti­li­ta­tis ha­bea­mus, sic inter nos na­tu­ra ad ci­vi­lem com­mu­ni­ta­tem co­ni­unc­ti et con­so­cia­ti sumus. quod ni ita se ha­be­ret, nec ius­ti­tiae ullus esset nec bo­ni­ta­ti locus.

Daher kann nicht leicht je­mand ge­fun­den wer­den, der nicht das, was er weiß, einem an­de­ren wei­ter­gibt. So sind wir nicht nur zum Ler­nen ge­neigt, son­dern auch zum Leh­ren. Und wie den Rin­dern von der Natur ge­ge­ben wurde, dass sie für die Käl­ber gegen Löwen mit höchs­ter Kraft kämp­fen, so wer­den die­je­ni­gen, die es von ihren Kräf­ten her ver­mö­gen und dies leis­ten kön­nen, wie wir es von Her­ku­les und von Bac­chus ge­hört haben, von der Natur zum Dienst am Men­schen­ge­schlecht an­ge­trie­ben. Und wenn wir Iup­pi­ter den Bes­ten und Höchs­ten nen­nen und zu­gleich auch den Hel­fer, den Gast­freund­li­chen und den Be­schüt­zer, dann wol­len wir damit, dass dies er­kannt werde, dass das Wohl der Men­schen in sei­ner Hand liegt. Es ist auch kei­nes­wegs an­ge­mes­sen, wenn wir un­ter­ein­an­der wert­los und nach­läs­sig sind, zu for­dern, dass wir den Himm­li­schen teuer seien und von ihnen ge­liebt wer­den. Wie wir die Glie­der be­nut­zen, bevor wir ge­lernt haben, zu wel­chem Zweck wir sie haben, so sind wir von der Natur zur bür­ger­li­chen Ge­mein­schaft ver­bun­den und ver­sam­melt. Wenn dies nicht so wäre, dann gäbe es für Ge­rech­tig­keit und für die Güte kei­nen Ort.

 

(a): Ci­ce­ro greift hier Bei­spie­le aus der Zoo­lo­gie auf, die ver­mut­lich zu­erst von Aris­to­te­les in die­sem Sinne ver­wen­det wur­den. Die (hier ge­kürz­te) Dar­stel­lung einer Art Sym­bio­se bei be­stimm­ten Mu­schel­ar­ten be­ruht auf einer feh­ler­haf­ten In­ter­pre­ta­ti­on der bio­lo­gi­schen Zu­sam­men­hän­ge; gleich­wohl könn­te man hier durch­aus an­de­re Bei­spie­le aus der Bio­lo­gie an­füh­ren. (Auf die­sen Zu­sam­men­hang weist Ha­rald Mer­klin in sei­nem Kom­men­tar hin: M. Tul­li­us Ci­ce­ro: Über das höchs­te Gut und das größ­te Übel / De fi­ni­bus bo­no­rum et ma­lo­rum, hg., übers. u. kom­men­tiert v. Ha­rald Mer­klin, Stutt­gart 1989.

(b) Hier müs­sen die Stoi­ker ge­meint sein. Es wird ver­mu­tet, dass Ci­ce­ro hier ein (ver­lo­ren ge­gan­ge­nes) Hand­buch, das er als Vor­la­ge ver­wen­de­te, nicht rich­tig ein­ar­bei­te­te; be­wei­sen lässt sich das nicht.

 

Fra­gen und Auf­ga­ben zu die­sem Text

1. Der Text ist be­reits in fünf Ab­schnit­te ge­glie­dert. Er­stel­len Sie eine Un­ter­glie­de­rung jeden Ab­schnitts, indem Sie zwi­schen zwei Me­tho­den wäh­len: Ent­we­der:

  • …fin­den Sie die Fra­gen her­aus, die der Autor sich ge­stellt haben mag, und nen­nen Sie die Ant­wor­ten, die er auf seine Fra­gen ge­fun­den hat
  • …oder for­mu­lie­ren Sie kurze Zwi­schen­über­schrif­ten in The­sen­form.

2. Zwei ver­bin­den­de The­men sind in die­sem Text fest­zu­stel­len:

  • die Natur und ihre Wir­kung auf den Geist
  • der Selbst­er­hal­tungs­trieb und die Ge­mein­schaft (Fach­ter­mi­nus: so­zia­le Oik­ei­o­sis).

Stel­len Sie die Aus­sa­gen im ge­sam­ten Text­aus­zug zu­sam­men, die sich auf die Natur be­zie­hen, v.a. auf die au­ßer­mensch­li­che Natur, z.B. die Tiere.
Geben Sie fer­ner eine Über­sicht über alle Aus­sa­gen zum Selbst­er­hal­tungs­trieb.

3. Stel­len Sie alle Aus­sa­gen über das Thema Göt­ter und Re­li­gi­on zu­sam­men.

4. Er­ör­tern Sie: Wel­che The­sen und Bei­spie­le des Au­tors er­schei­nen Ihnen ak­tu­ell und mo­dern, wel­che ver­al­tet und über­holt? Be­grün­den Sie Ihre Ant­wort.