Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Po­si­tio­nen zum Be­griff der In­ter­pre­ta­ti­on

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Gre­gor Mau­rach geht in sei­nem Lehr­buch der In­ter­pre­ta­ti­on von einem tra­di­tio­nel­len Ver­ständ­nis der Deu­tung li­te­ra­ri­scher Texte aus. Sein Buch hat den Vor­teil, dass es die Me­tho­de an Bei­spie­len de­mons­triert. Vie­les an die­ser Me­tho­de ist un­be­strit­ten not­wen­di­ger Be­stand­teil einer In­ter­pre­ta­ti­on an­ti­ker Texte: Immer geht es z.B. darum, den Text zu glie­dern und den atz­bau sowie die sprach­li­chen Bil­der zu be­schrei­ben. Die kon­kre­ten An­wei­sun­gen las­sen es aber frag­lich er­schei­nen, ob ihnen auf der Schü­ler­sei­te ei­ni­ger­ma­ßen kon­kre­te Kom­pe­ten­zen zu­ge­ord­net wer­den kön­nen. So liest man in der 'Zwi­schen­bi­lanz' (Mau­rach 2007, S. 87-89):

"Un­ter­su­che jedes auch nur ein wenig be­lang­reich aus­se­hen­de Wort!" (Mau­rach 2007, S. 88) [1]

Einen Un­ter­schied zwi­schen be­lang­rei­chen und un­wich­ti­gen Wör­tern fest­zu­stel­len ist aber be­reits eine der zen­tra­len In­ter­pre­ta­ti­ons­leis­tun­gen. Die Auf­for­de­rung 

Eine An­wei­sung, die im Buch mehr­mals wie­der­holt wird, weil sie zum Kern der Me­tho­de ge­hört, wird am Ende der Zwi­schen­bi­lanz mit die­sen Wor­ten auf den Punkt ge­bracht:

"Füge nie zu dei­nem Text [d.h. dem Text, der in­ter­pre­tiert wer­den soll] etwas hinzu, das der Text nicht zwin­gend nahe legt." (Mau­rach, S. 89)

Für Schü­ler dürf­te diese An­wei­sung eben­falls kaum um­setz­bar sein, denn wie sol­len sie un­ter­schei­den, wel­che ihrer In­ter­pre­ta­ti­ons­the­sen dem Text etwas Un­nö­ti­ges hin­zu­fü­gen und wel­che vom Text selbst nahe ge­legt wer­den?

Bei der In­ter­pre­ta­ti­on von Horaz, c. 3,22 zeigt sich, dass die me­tho­di­sche Vor­ga­be, nichts an­de­res solle ge­sche­hen, als dass der Text selbst zum Spre­chen ge­bracht wer­den darf, zu An­wei­sun­gen führt, die für Schü­ler nur be­dingt um­setz­bar sind. Gre­gor Mau­rach schreibt über Horaz' Ode:

"Wir be­grei­fen da nichts, wenn wir uns nicht hin­ein­ge­ben in die Ge­stimmt­heit: ein hei­ßer Som­mer­tag, nur Ruhe, Schau­en, Sin­nen und ein guter Trunk - nichts wei­ter. ... Das Ge­dicht sagt sich selbst und die Stim­mung die­ses Tags... " (Mau­rach S. 67).

Der Kon­text die­ser In­ter­pre­ta­ti­on ist die Kri­tik an der Se­kun­där­li­te­ra­tur, die z.B. re­li­gi­ons­ge­schicht­li­che Ele­men­te der Ode zu be­schrei­ben sucht. Er­schließt sich dem Schü­ler die Stim­mung eines Ge­dichts nicht, so kommt er über die Be­schrei­bung des Auf­baus nicht hin­aus. Die his­to­ri­sche Dis­tanz zwi­schen dem an­ti­ken Text und sei­nem mo­der­nen In­ter­pre­ten wird auf diese Weise nicht ra­tio­nal er­fass­bar. An­de­rer­seits liegt es für Schü­le­rin­nen und Schü­ler nahe, un­mit­tel­bar zu­gäng­li­che Ein­drü­cke wie etwa die Stim­mung eines Ge­dichts zu be­schrei­ben, da sie ja in der Regel nicht über um­fas­sen­de Kennt­nis­se etwa der re­li­gi­ons­ge­schicht­li­chen Be­zü­ge zu ver­fü­gen.

Hier kann es nicht darum gehen, die Ver­diens­te einer tra­di­tio­nel­len Me­tho­de in Ab­re­de zu stel­len; viel­mehr zeigt Gre­gor Mau­rachs Buch die Pro­ble­me die­ser Me­tho­de, und es wird deut­lich, dass die theo­re­ti­sche Grund­le­gung der In­ter­pre­ta­ti­on ge­nau­er be­dacht wer­den muss.

In der Ein­lei­tung zu sei­nem Über­blick über die Ver­su­che, mo­der­ne Li­te­ra­tur­theo­ri­en für die In­ter­pre­ta­ti­on an­ti­ker Texte frucht­bar zu ma­chen, kri­ti­siert Tho­mas A. Schmitz [2] die tra­di­tio­nel­le, auch von Gre­gor Mau­rach ver­tei­dig­te Ma­xi­me, man solle vor­ur­teils­los, d.h. un­be­las­tet von Theo­ri­en an die Texte her­an­ge­hen:

"[Man] hat ... nicht die Wahl, beim Be­trach­ten der Texte be­stimm­te Vor­an­nah­men zu haben oder nicht zu haben - ob ich will oder nicht, ge­wis­se Fra­gen habe ich schon be­ant­wor­tet und damit ge­wis­se Vor­ur­tei­le über­nom­men." (Schmitz 2002, S. 19.) [3]

Der Autor zi­tiert den eng­li­schen Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Terry Ea­gle­ton, der die­sen Ge­dan­ken auf diese  prä­gnan­te For­mel brach­te:

"Hos­ti­li­ty to theo­ry usual­ly means an op­po­si­ti­on to other peop­le's theo­ries and an ob­li­vi­on of one's own." (zit. nach Schmitz, S. 19)

Die ganze Band­brei­te der Li­te­ra­tur­theo­ri­en, die Tho­mas A. Schmitz in der zi­tier­ten Mo­no­gra­phie dar­stellt, kann aber un­mög­lich an die Li­te­ra­tur­di­dak­tik her­an­ge­tra­gen wer­den, da der Re­zep­ti­ons­auf­wand nicht ver­tret­bar wäre.

Die von Peter Kuhl­mann [4] her­aus­ge­ge­be­ne 'La­tei­ni­sche Li­te­ra­tur­di­dak­tik' setzt an einem Mo­dell der Kom­mu­ni­ka­ti­on an und be­zieht damit im­pli­zit Stel­lung in dem hier nur skiz­zier­ten Streit über die Frage, ob In­ter­pre­ta­ti­on der Theo­rie be­darf. Peter Kuhl­mann ver­steht In­ter­pre­ta­ti­on, auch die­je­ni­ge, die im La­tein­un­ter­richt statt­fin­det, als "his­to­ri­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on". (S. 11). Die Be­schäf­ti­gung mit an­ti­ker Li­te­ra­tur führt die Schü­le­rin­nen und Schü­ler in die an­ti­ke Kul­tur ein; Kul­tur wird hier ver­stan­den als Ge­samt­heit der In­sti­tu­tio­nen, der Men­ta­li­tät und der Vor­stel­lungs­welt. Die Au­to­ren ge­stal­ten die Vor­stel­lungs­welt ihrer Kul­tur aktiv mit; sie prä­gen das kul­tu­rel­le Ge­dächt­nis ihrer Zeit (ebd.). Die Be­schäf­ti­gung mit la­tei­ni­scher Li­te­ra­tur ver­mit­telt in­ter­kul­tu­rel­le Kom­pe­tenz, weil diese nur ver­stan­den wer­den kann, wenn ein re­la­tiv wei­ter his­to­ri­scher Ab­stand, eine Er­fah­rung der Fremd­heit be­wäl­tigt wird. (S. 12 f.)

Fra­gen von der Art: 'Was fan­dest du be­son­ders auf­fäl­lig am Text?' haben ihren Ort am Be­ginn einer Un­ter­richts­ein­heit, damit der Leh­ren­de ein Bild davon be­kommt, wie die Texte auf die Schü­ler wir­ken (Kuhl­mann 2010, S. 17).

In­ter­pre­ta­ti­on als kon­struk­ti­ver Ver­ste­hens­pro­zess

In­ter­pre­ta­ti­on soll im Fol­gen­den als Kon­struk­ti­ons­pro­zess ver­stan­den wer­den; diese kon­struk­ti­vis­ti­sche Sicht­wei­se ist auch gut mit dem Kom­pe­tenz­be­griff ver­ein­bar.  Der an­ti­ke Text ist selbst ein Pro­dukt kom­ple­xer Kon­struk­tio­nen. Er wird in die­sem Sinne als Aus­druck einer Welt­sicht ge­se­hen, zu­gleich als Ant­wort auf die Le­bens­fra­gen der an­ti­ken Ge­sell­schaft, als Ex­em­plar einer his­to­risch ent­stan­de­nen Text­sor­te, im Falle der la­tei­ni­schen Li­te­ra­tur der An­ti­ke in den meis­ten Fäl­len als Wei­ter­ent­wick­lung einer von den Grie­chen über­nom­me­nen Text­sor­te und li­te­ra­ri­schen Tra­di­ti­on.

 


An­mer­kun­gen und Li­te­ra­tur­hin­wei­se

[1] Gre­gor Mau­rach: In­ter­pre­ta­ti­on la­tei­ni­scher Texte. Ein Lehr­buch zum Selbst­un­ter­richt, Darm­stadt 2007

[2] Tho­mas A. Schmitz: Mo­der­ne Li­te­ra­tur­theo­rie und an­ti­ke Texte. Eine Ein­füh­rung, Darm­stadt 2002

[3] Terry Ea­gle­ton: Li­tera­ry theo­ry. An In­tro­duc­tion, 2. Aufl. Ox­ford 1996

[4] Peter Kuhl­mann (unter Mit­wir­kung von Heike Rühl): Mo­del­le und Me­tho­den, in: Peter Kuhl­mann (Hg.): La­tei­ni­sche Li­te­ra­tur­di­dak­tik, Bam­berg 2010, S. 8-38