Entstehung der Zwölftafelgesetze
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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Livius, Ab urbe condita, Über die Entstehung der Zwölftafelgesetze
Der Ständekampf, die Auseinandersetzung zwischen den Patriziern und Plebejern, führte in der Auseinandersetzung um das Recht, neue Gesetze einzubringen, zu einer unlösbaren Situation, zu einem Patt zwischen den beiden Gruppen der (freien) Bevölkerung (Livius 3, 31). Schließlich kam man überein, Gesandte nach Athen zu schicken, welche die dort bewährten Gesetze erkunden sollten. Den Auslöser bildete ein Gesetzesantrag, den Aventin, einen der sieben Hügel Roms, für das Volk freizugeben.
In der Forschung bestehen erhebliche Zweifel daran, ob sich in der Geschichte der Zwölftafelgesetze ein historischer Kern identifizieren lässt.
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3,31,7. Tum abiecta lege…tribuni lenius agere cum patribus: finem tandem certaminum facerent. Si plebeiae leges displicerent, at illi communiter legum latores et ex plebe et ex patribus, qui utrisque utilia ferrent quaeque aequandae libertatis essent, sinerent creari. 8. Rem non aspernabantur patres; daturum leges neminem nisi ex patribus aiebant. Cum de legibus conveniret, de latore tantum discreparet, missi legati Athenas Sp. Postumius Albus, A. Manlius, P. Sulpicius Camerinus, iussique inclitas leges Solonis describere et aliarum Graeciae civitatium instituta mores iuraque noscere.
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Nachdem danach das Gesetz gescheitert war, verhandelten die Volkstribunen in einer kompromissbereiteren Haltung mit den Patriziern: Sie sollten, meinten sie, endlich den Streitereien ein Ende bereiten. Wenn die plebejischen Gesetze missfielen, sollten sie doch zulassen, dass gemeinsame Antragsteller gewählt würden, und zwar aus dem Volk und aus der Reihe der Patrizier, die Vorschläge unterbreiten sollten, welche beiden Seiten nützlich wären und die dazu dienen könnten, die Freiheit auszugleichen. 8. Die Patrizier lehnten dies nicht ab; sie sagten, dass nur jemand aus ihren Reihen Gesetze geben könne. Als man wegen der Gesetze zusammenkam und nur noch Uneinigkeit darüber bestand, wer sie einbringen solle, wurden Sp. Postumius Albus, A. Manlius und P. Sulpicius Camerinus als Gesandte nach Athen geschickt, und sie bekamen den Auftrag, die bekannten Gesetze Solons abzuschreiben und sich über die Einrichtungen der anderen griechischen Stadtstaaten sowie deren Sitten und deren Rechtswesen zu informieren.
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3,32, 6. Iam redierant legati cum Atticis legibus. Eo intentius instabant tribuni, ut tandem scribendarum legum initium fieret. Placet creari decemviros sine provocatione, et ne quis eo anno alius magistratus esset. 7. Admiscerenturne plebeii, controversia aliquamdiu fuit; postremo concessum patribus, modo ne lex Icilia de Aventino aliaeque sacratae leges abrogarentur. |
Schon waren [im Jahr 453] die die Gesandten mit dem griechischen Gesetzen zurückgekehrt. Desto heftiger drängten die (Volks-)Tribunen, dass man endlich mit dem Verfassen der Gesetze beginne. Man einigte sich, dass ein Zehnmännerkollegium ohne Provokationsrecht gewählt werden solle und dass es in diesem Jahr keine anderen Magistrate geben solle. 7. Eine Zeitlang gab es die Streitfrage, ob Plebejer hinzugezogen werden sollten; schließlich gab man den Patriziern nach, vereinbarte aber, dass das Icilische Gesetz über den Aventin und andere beschworene Gesetze nicht aufgehoben würden. |
[33] 1. Anno trecentensimo altero quam condita Roma erat iterum mutatur forma civitatis, ab consulibus ad decemviros, quemadmodum ab regibus ante ad consules venerat, translato imperio. 2. Minus insignis, quia non diuturna, mutatio fuit. Laeta enim principia magistratus eius nimis luxuriavere; eo citius lapsa res est repetitumque duobus uti mandaretur consulum nomen imperiumque. 3. Decemviri creati Ap. Claudius, T. Genucius, P. Sestius, L. Veturius, C. Iulius, A. Manlius, P. Sulpicius, P. Curiatius, T. Romilius, Sp. Postumius. 4. Claudio et Genucio, quia designati consules in eum annum fuerant, pro honore honos redditus, et Sestio, alteri consulum prioris anni, quod eam rem collega invito ad patres rettulerat. 5. His proximi habiti legati tres, qui Athenas ierant, simul ut pro legatione tam longinqua praemio esset honos, simul peritos legum peregrinarum ad condenda nova iura usui fore credebant. |
Im 302. Jahr nach Gründung der Stadt wurde noch einmal die Verfassung der Bürgerschaft geändert, von der Herrschaft der Konsuln zur Herrschaft des Zehnmännerkollegiums, so wie man vorher von den Königen zu den Konsuln gekommen war, indem man die Herrschaft übertrug. 2. Diese Veränderung war weniger bedeutsam, da sie nicht auf Dauer Bestand hatte. Die positiven Anfänge dieser Verwaltungsform veränderten sich zum Negativen hin; umso schneller entglitt die Sache, und man kam wieder dazu, dass zwei Männern Namen und Amtsgewalt der Konsuln übertragen werden solle. 3. Als Zehnmänner (Decemvirn) wurden Ap. Claudius, T. Genucius, P. Sestius, L. Veturius, C. Iulius, A. Manlius, P. Sulpicius, P. Curiatius, T. Romilius und Sp. Postumius gewählt. 4. Claudius et Genucius wurde die Ehre wieder erteilt, weil sie die für dieses Jahr designierten Konsuln waren, und dem Sestius, einem der beiden Konsuln des Vorjahres, weil er gegen den Willen seines Amtskollegen diesen den Vätern Vorschlag unterbreitet hatte. 5. Nach diesen wurden die drei Gesandten eingereiht, die nach Athen gegangen waren, damit sie für eine derart lange Reise geehrt würden, und weil man glaubte, dass Leute, die sich mit den Gesetzen anderer Länder auskennen, für die Gründung eines neuen Rechts nützlich seien. |
Livius berichtet in den folgenden Abschnitten, dass das Zehnmännerkollegium abwechselnd Recht sprach und dabei auf großen Konsens der Bürgerschaft stieß.
[34, 1] Cum promptum hoc ius velut ex oraculo incorruptum pariter ab iis summi infimique ferrent, tum legibus condendis opera dabatur; ingentique hominum exspectatione propositis decem tabulis, 2. populum ad contionem advocaverunt et, quod bonum faustum felixque rei publicae ipsis liberisque eorum esset, 3. ire et legere leges propositas iussere: se, quantum decem hominum ingeniis provideri potuerit, omnibus, summis infimisque, iura aequasse: plus pollere multorum ingenia consiliaque. 4. Versarent in animis secum unamquamque rem, agitarent deinde sermonibus, atque in medium, quid in quaque re plus minusve esset, conferrent. 5. Eas leges habiturum populum Romanum, quas consensus omnium non iussisse latas magis quam tulisse videri posset. 6. Cum ad rumores hominum de unoquoque legum capite editos satis correctae viderentur, centuriatis comitiis decem tabularum leges perlatae sunt, qui nunc quoque, in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum cumulo, fons omnis publici privatique est iuris. 7. Volgatur deinde rumor duas deesse tabulas, quibus adiectis absolvi posse velut corpus omnis Romani iuris. |
34, 1. Wie Hohe und Niedrige gleichermaßen dieses Recht gleichsam wie einen unverfälschten Orakelspruch hinnahmen, so bemühte man sich um die Neuformulierung der Gesetze; und nachdem unter großer Erwartung der Menschen die zehn Tafeln aufgestellt worden waren, 2. riefen sie das Volk zu einer Versammlung und befahlen – was ihnen und ihren Kindern gut und glücklich ausgehen möge – 3. man solle hingehen und die aufgestellten Gesetze lesen; sie hätten, soweit dies mit der Einsicht von zehn Menschen gewährleistet werden könne, die Rechte auf alle, auf Hohe und Niedrige, gleich verteilt: Die Einsicht und das Urteil vieler vermöge mehr. 4. Sie sollten über jede einzelne Sache nachdenken, danach darüber sprechen, und dann in die Öffentlichkeit bringen, was in einzelnen Aspekten zu viel oder zu wenig sei. 5. Das römische Volk werde solche Gesetze haben, welche, so könnte man sagen, die allgemeine Übereinkunft ebenso beschlossen wie eingebracht habe. 6. Als die Gesetze, nach den Äußerungen der Menschen über jeden einzelnen Artikel, genug verbessert erschienen, wurden die Zehntafelgesetze in Zenturiatskomitien bestätigt, die auch heute noch, bei dieser riesigen Menge an Gesetzen, von denen eines auf das andere gehäuft wurde, die Quelle alles öffentlichen und privaten Rechts darstellen. 7. Es verbreitete sich dann die Meinung, dass zwei Tafeln fehlen, nach deren Ergänzung sozusagen ein Körper des gesamten römischen Rechts hergestellt werden könne. |
Vorschläge zur Interpretation dieses Textes
- Gliedern Sie diesen Text, indem Sie in knappen Sätzen die Vorgänge skizzieren, die zur Entstehung der zehn Tafeln führten.
- Beschreiben Sie die Rolle der beiden Fraktionen (Patrizier und Plebejer), die um die Erstellung der neuen Gesetze ringen.
- Verfertigen Sie eine Aufstellung aller Aussagen über den zentralen Gegenstand des Textes, die Zwölftafelgesetze, und erarbeiten Sie so eine Charakteristik dieses Gesetzgebungswerks.
- Suchen Sie die Textstellen heraus, in denen die Bedeutung der Zwölftafelgesetze für die spätere Zeit erörtert wird.
- Untersuchen Sie, wie die Stimme des Erzählers zu den geschilderten Ereignissen steht; achten Sie insbesondere darauf, ob er das Geschehen kommentiert.
- Schreiben Sie schließlich eine Zusammenfassung, in der Sie die Bedeutung der Zwölftafelgesetze für das Selbstverständnis der römischen Gesellschaft in der frühen Kaiserzeit erörtern.
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Anmerkungen und Literaturhinweise
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Vgl. hierzu:
- Marie Theres Fögen: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2. Aufl. Göttingen 2003
- Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts, 4., durchgesehene Auflage, München 2011