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Teil 2: In­ter­pre­ta­ti­ons­klau­sur

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Vor der ta­bel­la­ri­schen Auf­lis­tung der In­ter­pre­ta­ti­ons­auf­ga­ben der Niobe-Klau­sur mit den je­wei­li­gen Kom­pe­tenz­fel­dern ist eine In­ter­pre­ta­ti­on des Text­ab­schnit­tes (met. VI, 165-213) von Nöten, die ei­ner­seits be­wusst Rück­sicht auf den La­tein­un­ter­richt nimmt, ohne dass dabei die wis­sen­schaft­li­che Be­hand­lung [1] außer Acht ge­las­sen wird. Die Vers­an­ga­ben be­zie­hen sich nun auf die in der Klau­sur ge­setz­ten Ver­s­num­mern:

Mit einer Art von Epi­pha­nie stört die Kö­ni­gin Niobe die Kul­t­hand­lung der The­ba­ne­rin­nen für La­to­na, was Ovid mit dem De­mons­tra­ti­vad­verb „ecce“
(v 1) ver­deut­licht, das den neuen Ab­schnitt „ein­läu­tet“. Man könn­te ge­ra­de­zu an eine ge­lun­ge­ne Büh­nen­show den­ken, wenn man sich die im Text ver­fass­ten „Show­ele­men­te“ vor Augen führt: zum Einen die in v 1 in auf­fal­len­der Ton­stel­lung po­si­tio­nier­te Wort­grup­pe „ce­le­ber­ri­ma turba“, zum An­de­ren von den in­ein­an­der ver­schach­tel­ten Hy­per­ba­ta „ves­ti­bus … Phry­giis“ und „in­tex­to…auro“ (v 2), die nach der Wort­art chi­as­tisch im Ver­hält­nis ste­hen. Die Wir­kung auf das Pu­bli­kum der Kul­t­hand­lung und auf das Le­ser­pu­bli­kum wird in dem Ad­jek­tiv „for­mo­sa“ (v 3) zum Aus­druck ge­bracht, wobei hier durch den ein­schrän­ken­den Ne­ben­satz „quan­tum ira sinit“ (v 3) die Cha­rak­ter­schwä­che der Niobe und das schreck­li­che Ende der Ge­schich­te vor­weg ge­nom­men wer­den. Erst als das Ge­fol­ge mit­samt ihrer Kö­ni­gin zum Ste­hen kommt („con­sti­tit“, v 5), wird Nio­bes edles Haupt mit dem über beide Schul­tern her­ab­wal­len­den Haar sicht­bar. („mo­vens­que de­co­ro cum ca­pi­te in­mis­sos um­er­um per ut­rumque ca­pil­los”, vv 3 f.).
Das Ad­jek­tiv „alta” (v 5) kann in sei­ner Mit­tel­stel­lung im Hy­per­ba­ton „ocu­los…su­per­bos“ ( v 5) in zwei­er­lei Hin­sicht ver­stan­den wer­den. Niobe steht hoch über ihrem Volk, als ob sie sich zum Him­mel em­por­rä­keln würde. Wird das „alta“ in einer Art En­al­lagé zu dem in un­mit­tel­ba­rer Nähe be­find­li­chen „su­per­bos“ – in ab­ge­wan­del­ter Form „su­per­bia“ – ge­zo­gen, fällt Ovid nach dem Zorn ein zwei­tes Ur­teil be­züg­lich der Cha­rak­ter­schwä­che: kein nor­ma­ler Hoch­mut hat Niobe be­fal­len, son­dern eine „alta su­per­bia“, die schon krank­haft zu sein scheint. Es folgt die Nio­be­re­de, die der Form nach einem Hym­nus an einen Gott gleicht, nur be­zieht die Kö­ni­gin ihr Hym­nus auf sich selbst. „Quis furor, au­di­tos … pra­epo­ne­re visis / cae­les­tes? / Aut cur co­li­tur La­to­na per aras, / numen adhuc sine ture meum est?“ (vv 6 ff.)
Niobe un­ter­stellt ihren Un­ter­ta­nen ein wahn­sin­ni­ges Ver­hal­ten. Ge­schickt, wie Ovid den Be­griff „furor“ der Kö­ni­gin in den Mund legt, der zwar an die The­ba­ne­rin­nen ge­rich­tet ist, je­doch auch auf die Prot­ago­nis­tin selbst be­zo­gen wer­den könn­te. Nun wer­den Niobe drei De­fi­zi­te zu­ge­rech­net: „ira“ (v 3), „su­per­bia“ (v 5) und „furor“ (v 6) – zu­sam­men er­gibt das die un­glaub­li­che Hy­bris!
In ihrer Rede gibt Niobe zu­nächst ge­nea­lo­gi­sche Grün­de an, die sie dazu ver­an­las­sen, von ihren Un­ter­ta­nin­nen eine gottähn­li­che Kul­t­hand­lung ein­zu­for­dern und sich sogar über die Göt­tin La­to­na zu stel­len:

  • „Mihi Tan­ta­lus auc­tor“ (v 8): Sie nennt Tan­ta­lus, den ly­di­schen König, ihren Vater, der als ein­zi­ger an den Tisch der Göt­ter kom­men durf­te. Sie lässt dabei die Schand­tat ihres Er­zeu­gers außen vor, der auf dem Olymp den Göt­tern sei­nen zer­stü­ckel­ten Sohn Pe­lops den Göt­tern zum Mahl vor­setz­te, um deren All­wis­sen­heit auf die Probe zu stel­len.
  • „Plei­adum soror est ge­ne­trix mea“ (v 10): Niobe ver­weist auf ihre Mut­ter Dione, eine Schwes­ter der Ple­ja­den und Toch­ter des Atlas („ma­xi­mus Atlas est avus“, vv 10 f.).
  • „Iup­pi­ter altus avus: so­ce­ro quo­que glo­ri­or illo.“ (v 12): Sie ist stolz auf ihre Ab­stam­mung von Jup­pi­ter.
  • „me gen­tes me­tu­unt Phry­giae, me regia Cadmi sub do­mi­na est, fi­di­bus­que mei com­mis­sa ma­ri­ti mo­e­nia cum po­pu­lis a meque vi­ro­que regun­tur“ (vv 13 ff.): Sie ver­weist auf den Grün­der der Stadt The­ben, Kad­mos, Sohn des Kö­nigs Age­nor von Tyros und Bru­der der Eu­ro­pa. Die­ser grün­de­te bei der Suche nach sei­ner Schwes­ter die Stadt The­ben.

Bevor die wei­te­ren Grün­de für Nio­bes Hy­bris auf­ge­zählt wer­den, soll­te ein kur­zer Blick
auf die sprach­li­che Ge­stalt des ers­ten Ab­schnit­tes der Rede (vv 8 – 15) ge­wor­fen wer­den.
Niobe be­ruft sich also auf die Ab­stam­mung von Tan­ta­lus, ja sogar von Jup­pi­ter und be­zeich­net sich als „do­mi­na“ (v 14), der es zu­steht, gegen jed­we­den An­wei­sun­gen zu tref­fen. Wie oben schon aus­ge­führt, han­delt es sich bei der Rede um einen Hym­nus auf Niobe selbst, was durch die Ver­wen­dung der zahl­rei­chen Per­so­nal­pro­no­mi­na und Pos­ses­siv­pro­no­mi­na der ers­ten Per­son deut­lich wird (v 8: „mihi“, v 10: „mea“, v 13: zwei­mal „me“ in par­al­le­ler und ana­pho­ri­scher Stel­lung, v 14: „mei“, v 15: „ a me“).

Nach der Ab­stam­mung ver­weist Niobe auf ihren Reich­tum, von Ovid wie­der­um in Form eines Hy­per­ba­ton, „im­men­sae … opes“ (v 17), aus­ge­dückt. Knapp in drei Wor­ten for­mu­liert und darin eine Al­li­te­ra­ti­on „ver­packt“, nennt Niobe ihre Ge­samt­er­schei­nung, die einer Göt­tin wür­dig ist („digna dea fa­cies“, v 18). Das Ende ihres Ka­ta­logs, auf den ihr Stolz be­ruht, stellt ihr Kin­der­reich­tum dar („huc natas adice sep­tem et to­ti­dem iuve­nes“, vv 18 f.). Mit der Wort­grup­pe „mox ge­ne­ros­que nu­rus­que“ (v 19) zielt sie auf die Nach­kom­men­schaft ihrer gro­ßen Fa­mi­lie, ihres gro­ßen Ge­schlech­tes ab. Damit ist ein Bogen zum An­fang der Rede ge­spannt, in der sie mit der Er­wäh­nung ihrer Ahnen Tan­ta­lus, Dione, Jup­pi­ter und Atlas den Blick in die Ver­gan­gen­heit rückt.
Den nächs­ten Ver­sen „Quae­ri­te nunc, ha­beat quam nos­tra su­per­bia cau­sam, / nescio quo­que au­de­te satam Ti­ta­ni­da Coeo / La­to­nam prae­fer­re mihi, cui ma­xi­ma quon­dam / exi­gu­am sedem pa­ri­tu­rae terra na­vi­ga­vit“ (vv 20 – 23) sind zwei Funk­tio­nen inne. Zum Einen wird in einer im­pe­ra­ti­vi­schen Se­quenz, die nicht nur Auf­for­de­rungs­cha­rak­ter hat und eine deut­li­che War­nung an die Un­ter­ta­nin­nen be­inhal­tet, son­dern auch durch die Wort­wahl in die Nähe einer rhe­to­ri­schen Frage rückt, ihre selbst ge­nann­te „su­per­bia“ (v 16) – be­glei­tet von dem plu­ra­lis mai­esta­tis „nos­tra“ (v 16) – zu einer Hal­tung der Kö­ni­gin, an der kein Mensch und keine Gott­heit zu zwei­feln haben. Zum An­de­ren lei­tet der Re­la­tiv­satz, in dem das Re­la­tiv­pro­no­men mit dem Par­ti­zip der Nach­zei­tig­keit Aktiv „pa­ri­tu­rae“ (v 23) in einer wei­ten Sper­rung ver­bun­den ist, zu dem ei­gent­li­chen An­griff der Niobe auf La­to­na über. Die Kö­ni­gin, die am An­fang der Rede ihren fes­ten Kö­nigs­sitz und ihren Reich­tum lobt, kon­tras­tiert ihren Sta­tus mit dem ihrer Kon­kur­ren­tin. Sie ver­wen­det dabei vor allem Worte aus dem Sach­feld „Ir­run­gen“, um den in­sta­bi­len und win­zi­gen Ge­burts­ort der Zwil­lin­ge Apol­lo und Diana und den schwa­chen So­zi­al­sta­tus der ge­bäh­ren­den La­to­na dem Pu­bli­kum plas­tisch vor Augen zu füh­ren (v 24: „nec caelo nec humo nec aquis“, v 25: „va­gan­tem“, v 26: „hos­pi­ta“, v 26: „erras“, v 27: „in­sta­bi­lem­que locum“). Die Er­bärm­lich­keit die­ser Ge­burts­si­tua­ti­on wird durch den Aus­gang der Ge­burt ver­stärkt, der mit­tels einer nack­ten Zahl „du­o­rum (v 27) zum Aus­druck ge­bracht wird. Dar­auf folgt ein har­tes Re­chen­kal­kül: „uteri pars haec est sep­ti­ma nos­tri“ (v 28). Den letz­ten Ab­schnitt ihrer Rede (vv 29 – 38 a) be­ginnt Niobe mit zwei rhe­to­ri­schen Fra­gen („Quis enim neget hoc? Fe­li­x­que ma­ne­bo / Hoc quo­que quis du­bi­tet?, vv 29 ff.). Die Le­bens­auf­fas­sung der Kö­ni­gin ist von einer pri­mi­ti­ven und nai­ven Hal­tung ge­prägt, was sie auch in den wei­te­ren Ver­sen mit ihren ei­ge­nen Wor­ten do­ku­men­tiert. Sie spricht der For­tu­na auf ihre Per­son be­zo­gen ihren Wir­kungs­be­reich ab („quam cui pos­sit For­tu­na no­ce­re, v 31), was für Niobe be­deu­tet, dass sie weder durch mensch­li­che Hand noch durch gött­li­che Fü­gung noch durch das Schick­sal Ab­stand neh­men muss von ihrem zu Be­ginn der Rede dar­ge­stell­ten Sta­tus (Her­kunft / Ab­stam­mung – Reich­tum – Macht – Kin­der­reich­tum / si­che­rer Er­halt des Ge­schlechts durch die Nach­kom­men­schaft). Die Rede endet mit einem Kult­ver­bot der La­to­na, an das die Un­ter­ta­nin­nen sich je­doch nicht hal­ten; sie prak­ti­zie­ren ihre ri­tu­el­len Kulte im stil­len Gebet, „ta­ci­to … mur­mu­re“ (v 39).
La­to­na re­agiert nicht mit einer Ge­gen­re­de, die an Niobe adres­siert ist, son­dern spricht in den himm­li­schen Sphä­ren zu ihren Kin­dern. Sie gibt un­um­wun­den zu, dass sie in ihrer Per­son und in ihrem Stolz ver­letzt wurde. Ent­ge­gen der Ab­fol­ge der Grün­de für Nio­bes Stolz ste­hen für La­to­na ihre Kin­der an ers­ter Stel­le. La­to­na hätte ihren Ge­füh­len frei­en Lauf las­sen und sich dar­über be­kla­gen kön­nen, dass sie eben­so schön, reich und adlig oder eben schö­ner, rei­cher und von vor­neh­me­rer Her­kunft sei. Doch sie emp­fin­det Schmerz über Nio­bes ab­wer­ten­de Worte, die so­wohl an sie selbst und an ihre Kin­der ge­rich­tet sind (vv 47 ff: „vos­que est pro­po­ne­re natis / ausa suis et me, quod in ipsam rec­ci­dat, orbam / dixit et ex­hi­buit lin­gu­am sce­le­ra­ta pa­ter­nam.“).

Hin­sicht­lich der Niobe-In­ter­pre­ta­ti­ons­klau­sur wer­den nur die Auf­ga­ben ta­bel­la­risch skiz­ziert, die von den her­kömm­li­chen Auf­ga­ben­ty­pen mit den be­kann­ten Ope­ra­to­ren aus den La­teina­b­itu­ra des Lan­des Baden-Würt­tem­berg ab­wei­chen!


[1] Siehe hier­zu Rö­misch, 21-45.

Teil 2: In­ter­pre­ta­ti­ons­klau­sur: Her­un­ter­la­den [doc] [62 KB]